Mord
bekundet, dass der Mann verrückt gewesen sei, schon Stunden vorher. Witte wurde auf strafrechtlicher Grundlage vorläufig in eine hochgesicherte psychiatrische Klinik des Maßregelvollzugs eingewiesen, um zu prüfen, ob die Krankheit wiederkam und er auch zukünftig gefährlich war. Er wurde erneut begutachtet. Die Psychiaterin erklärte, dass er bei der zurückliegenden Tat wegen einer akuten Geisteskrankheit unzurechnungsfähig gewesen sei. Diese sei aber unter der Behandlung abgeklungen, und Witte sei nicht überdauernd gefährlich. Damit konnte er weder bestraft noch in der Psychiatrie festgehalten werden; das zuständige Landgericht lehnte die Durchführung eines Sicherungsverfahrens ab, der Mann müsse entlassen und ausgewiesen werden.
Schlimm war für die Angehörigen der beiden getöteten Beamten, dass es keine Gerichtsverhandlung gab, in der das Geschehen vor aller Augen sorgfältig rekonstruiert wurde und man sich die Aussagen der Zeugen und die Beurteilungen der Gutachter anhören und sie überprüfen konnte. Es hätte dies den grenzenlosen Schmerz nicht beseitigt, aber es hätte den Angehörigen das Gefühl gegeben, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfuhr.
Die Presse schäumte; die Journalisten wussten genau, dass es sich bei dem Täter um einen russischen Kriminellen handeln musste, wahrscheinlich Mitglied der Mafia, organisierte Kriminalität, und dass nur die Gutachter und zuständigen Juristen verrückt waren.
Die Staatsanwaltschaft legte Beschwerde ein, wenn auch in dem Bewusstsein, dass unsere Rechtsordnung für einen Fall wie diesen keine Gerichtsverhandlung vorsieht – wenn die bisherigen Gutachten stimmten. Ein dritter Gutachter wurde vom Oberlandesgericht bemüht, er sollte herausfinden, ob Witte wirklich krank gewesen war und ob er nicht interniert bleiben müsse. Dieser Dritte war ich.
Alexander saß inzwischen seit zehn Monaten auch ohne Medikamente unverändert gesund in der Psychiatrie, spielte Schach mit Mitpatienten, wurde von seinem Bruder und dessen Familie besucht und war dankbar, wenn dieser russische Bücher mitbrachte. Er war ein stiller, ernster Mann, der, ohne zu drängen, wartete und sich nicht beklagte. Als ich ihn fragte, was man machen müsse, um ihn zum Lächeln zu bringen, entgegnete er ernst, darüber könne man reden, wenn er wieder bei seiner Familie sei. Es war ihm bewusst, wie viel Trauer und Leid in den Familien der Opfer herrschen musste, aber diese Menschen waren ihm zugleich auch völlig fremd, völlig unbekannt, ganz fern – Menschen, deren Lebensweg sich in einer einzigen Minute mit seinem überschnitten hatte, und er, ein machtloser Täter, ein kleiner depressiver Mechaniker aus Kasachstan, war schuld an all dem Leid.
Schneidige TV -Journalisten lauerten derweil mir und anderen Verfahrensbeteiligten mit Kamerateam und Flokati-Mikrophon vor der Haustür auf, um sie zu beschimpfen und zu beleidigen und die Reaktionen zu filmen auf zugerufene Fragen: «Wie können Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren, dass dieser Mörder rauskommt?» Es wurde alles vorbereitet, um auf Jagd zu blasen gegen Alexander Witte, falls dieser wirklich freikommen sollte. Als auch der dritte Gutachter dem Oberlandesgericht bestätigte, dass Witte in Fortsetzung seiner depressiven Ängste während der Busfahrt in eine akute psychotische Erkrankung geraten war, die dann nach vierwöchiger intensiver Behandlung abgeklungen war, und dass künftig – trotz der Schwere seiner Taten – keine Gefahr von ihm ausgehe, solange er sich angemessen gegen einen Krankheitsrückfall schütze, musste er freigelassen und als kasachischer Staatsbürger ausgewiesen werden.
Man hat nicht herausgefunden, wer die lebensgefährliche Entscheidung getroffen hat, der Presse mitzuteilen, dass er am Folgetag um 10 Uhr aus der Klinik entlassen würde. Die Nachricht wurde sofort über alle Sender der Republik weiterverbreitet. Nur durch die vorausschauende Hilfe der Klinik konnte Alexander Witte dem Mob entkommen, der ihn bis weit nach Polen hinein verfolgte und sich zusammensetzte aus Journalisten und gewaltbereitem Pöbel. Seine Ängste auf dieser Heimfahrt nach Kasachstan waren berechtigt. Als er zu Hause ankam, lag hoher Schnee an den schrägen Wänden seiner Kate, der Februar ging dem Ende zu, und er war ein Jahr unterwegs gewesen.
Eine Liebe von Fritz
Fritz war einer der Jungs vom Stuttgarter Platz, dem Berliner Stutti der Nachkriegszeit, wo sich die jungen deutschen Zuhälter trafen, die noch
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