Mord
Letzte, und die anderen schauten ihn an, als er durch den Mittelgang wieder auf seinen Platz ging.
Jetzt waren es noch 200 Kilometer bis Warschau, sie waren so gut wie am Ziel, von da nur noch 500 Kilometer bis Berlin. Dort wollte Gregor ihn abholen. Sie fuhren durch Warschau, und Alexander ging es gar nicht gut. Sie fuhren durch die Dunkelheit, aber immer wieder zuckten Lichter auf, und die Schatten wie die Lichter durchzogen den Bus. Alexander fing an zu zucken und rief laut, dass man ihn nicht anfassen solle. Niemand wollte ihn anfassen, alle schauten ratlos zu ihm hin, Alexander saß da mit ängstlichem Gesicht. Er rief: «Mama, Mama!», und auch nach seinem Vater, und er hörte nicht mehr auf zu rufen. Wenn er doch mal für einige Minuten eine Pause machte, sanken die anderen erleichtert zurück in ihre Sitze.
Plötzlich stürzte er sich auf einen Mann, der in der Nähe des vorderen Ausgangs an einem kleinen Tisch auf der anderen Gangseite saß, und hielt ihn fest. Die Stewardess zog Alexander mit Hilfe anderer Männer zurück und brachte ihn wieder auf seinen Platz, wo er sich beruhigte. Er sagte ihr: «Bitte, bitte, tun Sie mir nichts!» Sie legte ihre Hände mit den roten Fingernägeln beschwörend zusammen und versicherte, dass er in völliger Sicherheit sei, niemand wolle ihm etwas tun. Danach hatte er laufend Tücher vor dem Gesicht und sagte immer wieder, dass sie ihm nichts tun sollten, dass er ihnen alles geben wolle, was sie verlangten. Das Tuch vor seinem Gesicht war nass von seinem Speichel. Die Stewardess hatte Mitleid, fragte, ob er Tabletten benötige, er sagte, es sei alles in Ordnung. Dann drehte er sich nach rechts, sah sein Spiegelbild im Fenster, der kleine Dicke hatte sich weggesetzt, der Platz neben ihm war frei – er sah sein Spiegelbild und erschrak.
Der Bus hielt nun extra seinetwegen an, damit er etwas Luft schnappen konnte. Der Busfahrer gab ihm eine Zigarette, riet ihm, sich hinzulegen und zu schlafen, damit er fit war für seine Angehörigen. Busfahrer und Stewardess berieten sich, ob man ihn vielleicht schneller loswerden könnte. Die Stewardess sollte herausbekommen, wie seine Angehörigen telefonisch erreichbar waren. Sie fragte, ob sie mal Alexanders Papiere sehen könne, und fand im Pass einen weißen Zettel mit der Adresse und Telefonnummer seines Bruders in Lübben. Der Busfahrer erreichte Gregor per Telefon und bat ihn, statt nach Berlin direkt zur deutsch-polnischen Grenzstation zu kommen und da den Bruder zu übernehmen, der wohl krank sei. Er sagte, nicht besonders höflich, dass der Mann «nicht ganz richtig im Kopf» sei. Sie würden halt etwas ausladen müssen und sein Gepäck schon finden.
Als sie wieder losgefahren waren, schlief Alexander nicht. Er aß Sonnenblumenkerne, unentwegt, spuckte die Schalen auf den Boden. Plötzlich krachte es – er war mit Wucht mit dem Kopf voran gegen sein Spiegelbild gesprungen, gegen die Fensterscheibe. Einen Moment lang hing er ganz verrutscht halb auf dem Sitz, halb auf dem Boden. Er sagte: «Vielleicht ist mit meinem Kopf etwas nicht mehr in Ordnung.» Er zog sich hoch, blickte wieder prüfend in den Bus, setzte sich zurück auf seinen Platz, wurde gereizt, aggressiv. Als die Stewardess an seinem Sitz Schalen und Zigarettenkippen vom Boden aufsammelte, sagte er, dass sie das nicht so schlampig machen solle. Wenn sie bei ihm arbeiten würde, müsste sie richtig sauber machen.
Eine Weile war er wieder ruhig. Fünfzehn Minuten vergingen, dann hob er seinen niedergesunkenen Kopf, drehte ihn und sagte zu seinem Nebenmann auf der anderen Gangseite: «Ich bin der Dispatcher vom Bushof Iljenko.» Er wurde lauter und sprach: «Du bist mein Chef vom Bushof. Die anderen Reisenden müssen alle auf dich hören. Aber du musst mir jetzt einen höheren Posten geben, nicht nur Dispatcher – Vizechef!» Der andere Fahrgast überlegte krampfhaft, während Alexander redete, stellte sich freundlich und ernannte ihn zum Vizechef seines Bushofs, um ihn zu beruhigen. Dann war Ruhe.
Sie kamen an die deutsche Grenze. Alexanders Nachbar, der Chef vom Bushof, sprach ihn an, er solle ihm seinen Pass geben, damit es keine Probleme gebe, er mache das schon. Alexander antwortete, dass er keinen Pass habe, der sei ihm vor der Fahrt von seinem Sohn weggenommen worden. Der Chef des Bushofs sagte ihm, dass er ihn ja befördern wolle, aber dazu brauche er den Pass. Alexander gab ihm den Pass. Er wurde prompt befördert. Er wollte dazu auch Schnaps vom
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