Mord
senkte den Kopf mit der goldenen Haube, blickte auf ihre Hände, die auf dem blauen Tuch des Rockes lagen, und sagte nach längerer Zeit: «Nein. Das war ich nicht. Da irrt er sich.» Dann ging sie.
Bei den nun folgenden Vernehmungen blieb Fürstner bei der Beschuldigung seiner Mutter. Erst in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht ließ er sie fallen und erklärte, er könne sich an das Zustechen mit dem Messer nicht mehr entsinnen und müsse deshalb unzurechnungsfähig gewesen sein. Die Sachverständigen erklärten jedoch, er sei geistesgesund, insbesondere nicht schizophren wie seine Mutter, und leicht überdurchschnittlich intelligent. Er sei ein gefühlskalter egozentrischer Kindskopf, der durch seine langen Haftzeiten aus pubertärem Verhalten kaum herausgekommen sei. Das Schwurgericht verurteilte ihn wegen Mordes in Tateinheit mit schwerer gleichgeschlechtlicher Unzucht und dem fortgesetzten Verbrechen der Unzucht mit einem Kinde zu lebenslangem Zuchthaus.
Hinrich Fürstner blieb fast 50 Jahre in Haft. In dieser Zeit wurde er von seiner Mutter treu besucht, jeden Monat, 20 Jahre lang, 30 Jahre lang, bis zu ihrem Tod. Sie hatte bis zum Rentenalter als Putzfrau gearbeitet und war jeden ersten Sonnabend im Monat nach Werl gefahren, den Hinrich besuchen. Nie zuvor hatte er so viel mit der Mutter geredet, über das Wetter, das Fernsehen, die Haftanstalt, nie zuvor hatte die Mutter ihren Sohn so regelmäßig gesehen, ihn fragend angeschaut und zu verstehen versucht, warum ihre Gefühle nicht zu ihm durchdrangen. Über die Tat redeten sie eigentlich nie, aber irgendwann in dieser Zeit hatte er ihr erklärt, er hätte dem Jungen das Glied abschneiden wollen, weil das das Corpus delicti war, weil deswegen alles so gekommen sei. Die Mutter hatte ihn ratlos angeschaut: «Was du immer für Einfälle hast, Hinrich.»
Magdalene Fürstner grübelte oft, warum ihr Sohn das getan hatte. Dass er sie beschuldigt hatte, hatte sie gleich verstanden, schon auf dem Heimweg, als sie in der Straßenbahn saß und nachdenken konnte. Er war halt doch gewesen wie sein Vater, der Katzen- und Hundefresser, und hatte auch so ein Gesicht bekommen. Als Junge hatte er beim Schlachten der Tiere mithelfen müssen, das hatte er ja auch dem Gutachter erzählt. Und im Kinderheim ist er endgültig verdorben worden, da hatte es die Schweinereien mit den anderen Jungs gegeben. Währenddessen war sie selbst so weit weg gewesen, ihr Einziger war ihr ein fremdes Kind geblieben, früher, bis er ins Zuchthaus Werl kam. Sie starb mit 84 Jahren. Da war ihr Sohn noch immer ungelockert im Zuchthaus, das nun schon lange ein normales Gefängnis war. Wie der Allmächtige das so hinbekommt: der Sohn lebenslang inhaftiert in dem Wallfahrtsort, in dem sie geboren wurde.
Damals, als sie nach seiner Geburt krank wurde und von ihm getrennt und monatelang in der Anstalt blieb, als sie mit den Mächten des Bösen kämpfte, da war etwas zerrissen zwischen ihr und dem Kind. Sie blieb ihm treu bis zum Tod, aber sie hatte nie eine Ahnung, was in dem Kind vorging. Ihr war nicht einmal bewusst, dass sie es nicht wusste. Dass er so oberflächlich war und rücksichtslos und ohne Gefühle, das war ihr nicht aufgefallen. Da hatte sie ihren Ehemann schon besser erkannt gehabt, den Katzen- und Hundefresser, am Gesicht. So lebten sie beieinander, wenn er da war, der einzige Sohn und die Mutter, bis es passiert ist.
Sie war eine ernste Frau in Hellblau mit einer steifen Frisur und ist nie wieder glücklich geworden. Aber Glück, davon hatte sie auch vorher nicht viel gehabt. Nicht mal in Genf, als sie Französisch gelernt hat und Goldfranken bekam und große Träume hatte. Sie hat versucht, alles richtig zu machen, und dann kommt das Unglück. Es kommt. Man kann es nicht vorhersehen, manchmal kommt es von allen Seiten, auf einmal ist es da, vom Boden bis zur Decke, und man kann nicht weglaufen. So ist das mit dem Unglück.
Über Hans-Ludwig Kröber
Hans-Ludwig Kröber, 1951 in Bielefeld geboren, studierte Medizin und arbeitete zunächst in Bethel und an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg. 1994 wurde er Professor in Hamburg, 1996 ging er an die Berliner Charité, wo er seither Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie ist. Er ist Mitherausgeber des «Handbuchs der Forensischen Psychiatrie» und für seine Kriminalgutachten in aufsehenerregenden Strafverfahren bekannt.
Über dieses Buch
Es gibt keinen fundamentaleren Akt als den, einen
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