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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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zerklüftete, mit elektrischen Lichtern übersäte Manhattaner Skyline freigegeben. Starr vor Staunen registrierten unsere Gäste die schiere Größe der Silhouette mit den Türmen, die sich in die Wolken bohrten.
    »Der Mittelpunkt der Welt«, meinte Brill.
    »Gestern Nacht habe ich von Rom geträumt«, antwortete Freud.
    Voller Spannung warteten wir – oder zumindest ich – darauf, dass er fortfuhr.
    Freud zog an seiner Zigarre. »Ich war zu Fuß unterwegs, allein. Die Dunkelheit war gerade hereingebrochen, so wie jetzt. Ich kam zu einem Schaufenster mit einem Schmuckkästchen in der Auslage. Das steht natürlich für eine Frau. Dann habe ich mich umgesehen. Peinlich berührt habe ich bemerkt, dass ich bei meinem Spaziergang in ein reines Bordellviertel geraten war.«
    Daraufhin entbrannte aus dem Stand eine Diskussion darüber, ob Freuds Lehren eine Missachtung der konventionellen sexuellen Moral nahelegten. Jung trat für diese Auffassung ein und behauptete sogar, dass jeder, der diese Konsequenz nicht zog, Freud nicht begriffen hatte. Das Entscheidende an der Psychoanalyse war doch gerade, dass sie auf die Ignoranz und den ungesunden Einfluss gesellschaftlicher Verbote hinwies. Wenn man Freuds Entdeckungen erst einmal verstanden hatte, konnte man sich nur noch aus Feigheit einer zivilisierten Moral unterwerfen.
    Brill und Ferenczi widersprachen ihm mit großer Heftigkeit. Die Psychoanalyse erforderte, dass sich ein Mann seiner wahren sexuellen Triebe bewusst wurde, nicht aber, dass er sich ihnen unterwarf. »Wenn wir den Traum eines Patienten hören«, erklärte Brill, »dann deuten wir ihn. Wir fordern ihn nicht auf, die Triebe zu befriedigen, die er unbewusst zum Ausdruck bringt. Zumindest ich mache das nicht. Und Sie, Jung?«
    Mir fiel auf, dass Brill und Ferenczi während ihrer Darlegung immer wieder verstohlen zu Freud blickten – wohl in der Hoffnung, Rückendeckung von ihm zu erhalten. Ganz anders Jung. Er war felsenfest von seiner Position überzeugt oder gab sich wenigstens den Anschein, es zu sein. Freud selbst sprach sich für keine der beiden Seiten aus und war offenkundig damit zufrieden, das sich entspinnende Streitgespräch zu verfolgen.
    »Manche Träume erfordern keine Deutung«, entgegnete Jung, »sondern entschlossenes Handeln. Nehmen wir zum Beispiel Professor Freuds Traum von letzter Nacht. Seine Bedeutung liegt auf der Hand: unterdrückte Libido, angeregt durch die Vorfreude auf die Ankunft in der Neuen Welt. Es ist völlig überflüssig, sich über so einen Traum zu unterhalten.« Jung wandte sich an Freud. »Warum soll man ihn nicht vielmehr als Anregung zum Handeln begreifen? Schließlich sind wir in Amerika, wir können tun und lassen, was uns gefällt.«
    Nun sah sich Freud doch zu einer Äußerung veranlasst. »Ich bin verheiratet, Jung.«
    »Ich auch.«
    Statt einer Erwiderung zog Freud nur die Augenbraue hoch und nickte. Ich gab der Gruppe zu verstehen, dass es an der Zeit war, in den Zug zu steigen. Freud warf noch einen letzten Blick über das Geländer. Eine steife Brise wehte uns ins Gesicht. Während wir alle die Lichter von Manhattan betrachteten, trat ein Lächeln auf sein Gesicht. »Wenn die wüssten, was wir ihnen mitgebracht haben.«

KAPITEL ZWEI
     
    Im Jahr 1909 hatte in New York ein kleines Gerät seinen Siegeszug angetreten, das die Kommunikation beschleunigte und die Art und Weise menschlicher Interaktion für immer verändern sollte: das Telefon. Am Montag, dem 30. August, um acht Uhr früh, nahm der Verwalter des Balmoral den Perlmutthörer von seinem Messinghalter, um in aller Eile und Verschwiegenheit den Eigentümer des Gebäudes anzurufen.
    Sechzehn Stockwerke über dem Verwalter nahm Mr. George Banwell das Gespräch in der Telefonnische der Penthousewohnung im Travertine-Flügel entgegen, die er für sich selbst reserviert hatte. Er erfuhr, dass Miss Riverford aus dem Alabaster-Flügel tot in ihrem Apartment lag, Opfer eines Mordes und womöglich sogar eines noch grauenvolleren Vergehens. Ein Zimmermädchen hatte sie gefunden. Banwell verschlug es die Sprache.
    Die Leitung blieb so lange stumm, dass der Verwalter fragte: »Sind Sie noch dran, Sir?«
    Banwell antwortete mit knirschender Stimme: »Werfen Sie alle aus der Wohnung, und sperren Sie die Tür ab. Niemand geht da rein. Und sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen den Mund halten, wenn sie Wert auf ihren Job legen.« Dann rief er einen alten Freund an, den Bürgermeister von New York. Am Ende ihrer

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