Maison Aglaia
Ein Beinbruch
Omas Wohnzimmer war immer ein Ort fröhlichen Gelächters. Über dem großen grünen Sofa blickte der Urururgroßvater, einst Senator und Bürgermeister der Hansestadt Lübeck zur Zeit der napoleonischen Kriege, griesgrämig aus seinem riesigen Ölgemälde. Unter dem Porträt saß jetzt jedoch eine ebenso griesgrämig wirkende Frau von Mitte Dreißig, die lustlos an einem grau-roten Pullover herum strickte und gelegentlich unweiblich brummte. In der sonst so fröhlichen Hamburger Wohnung herrschte eine sichtlich gedrückte Stimmung.
Dabei gab es eigentlich keinen Grund zur Trauer oder schon gar keinen Familienstreit. Anlass zur Melancholie bot nur das Wetter, genauer das schlechte Wetter, also das typisch Hamburger Wetter! Trotzdem lag noch etwas anderes verborgen in der Luft, nahendes Unheil.
Vor der jungen Frau stand ein aus einem mächtigen Eichenbohlen gefertigter Couchtisch mit köstlichstem Käsegebäck. Einen dieser Käsekekse ließ sich ein jugendlich wirkender Mann mit vollem, langem braunen Haar und einem schütterem ebenso braunem Seemannsbart um ein pausbäckiges Gesicht sowie einer goldgeränderten Brille auf der etwas zu breit geratenen Nase mit offensichtlichem Genuss schmecken.
Er saß in einer zerknautschten Jeans und einem blau-rot-karierten Hemd an der Stirnseite des Couchtisches in einem gemütlichen großen Ohrensessel und genoss als einziger das Wetter.
Obwohl auch er dem Sonnenschein generell mehr abgewinnen konnte als diesem Nieselregen, war gegenwärtig seine durch nichts zu erschütternde seine Devise: „Hauptsache ich habe Urlaub und das Wort Nichtstun wird großgeschrieben.“
Ein Blick auf die Frau unter dem alten Griesgram dämpfte seine Laune ein wenig. Also, um erst gar keine Unlust aufkommen zu lassen, dachte er lieber an den warmen Süden Frankreichs, während er weitere Käsekekse verdrückte und den Gedanken an einen nachfolgend mit Sicherheit verkorksten Magen vorerst mannhaft verdrängte.
Dieser Mann war Peter von Misera, und die griesgrämige Strickerin seine Frau Beatrice. Dritter im Bunde war die gemeinsame Tochter Aglaia, die gerade ihrem Teddybär einen tiefen Blick in die gelben Glasaugen gönnte.
Vierter Protagonist, derzeit sozusagen hinter der Bühne, war Aglaias Oma Mia, die in der Küche ein besonders leckeres, aber leider meist auch nicht gerade schlank machendes Mittagsmahl zubereitete.
Im Theater pflegt der Held in einem solchen Moment bekanntlich meist etwas besonders bedeutungsschwangeres wie "Oh hört des Königs Wort" oder "Weh mir, Zeus hat gesprochen!" von sich zu geben. Auch hier wäre jetzt ein starkes Wort angebracht, dachte Peter von Misera und kramte in seinem Gedächtnis nach einem würdigen Zitat. Er kam nicht zu Wort, denn plötzlich drückte Aglaia ihren Teddy fest an sich und schniefte: "Will keinen Regen!"
Die Dreijährige schüttelte die langen blonden Haare und ihre blauen Augen füllten sich mit trotzigen Tränen. "Will keinen Regen!"
Mama und Papa waren sich schlagartig einig: Aglaia hatte ja so recht, der Regen ging allen mittlerweile mächtig auf die Nerven. Aber Eltern haben bekanntlich erzieherische Pflichten, an die sie sich in den pädagogisch unpassendsten Momenten zu erinnern pflegen.
"Der Regen ist doch wichtig, weil die durstigen Blümelein Wasser brauchen!" fühlte Peter sich zu einer grundsätzlichen Belehrung seines hoffnungsvollen Sprösslings aufgerufen. "Vielleicht will ja der liebe Gott ..."
"Er will nicht! Regen ist blöd!" unterbrach ihn Aglaia unbeeindruckt.
Als er erneut den durchschnittlichen Wasserbedarf der nordeuropäischen Flora in wohlgesetzten Worten zu erläutern begann: "...und alles wächst und gedeiht nur, weil ...", entgegnete ihm Aglaia resolut: "Nein, Papi, im Regen wird mein Teddy immer nass! Ich will keinen Regen!"
Genannter Papi schwieg gekränkt darüber, dass seine Argumente auf gar so unfruchtbaren, wenn auch regendurchtränkten Boden fielen.
"Ja ja, die verkannten Dichter und Denker," spottete seine Frau Beatrice vom Sofa herüber. Als geborene Hamburgerin kannte sie den Regen zwar zur Genüge, konnte ihm aber im Moment auch keine sonnigeren Seiten abgewinnen. Mit einem dicken blauen Pullover auf Nordpol getrimmt, träumte sie von schicken Strandkleidern, die sie hier natürlich niemals würde tragen können.
"Anstatt billige Modeblätter zu wälzen, könntest Du mir lieber in pädagogisch derart schwierigen Situationen zur Seite stehen!" brummte Peter
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