Morgen ist ein neuer Tag
knochige, abgehärmte, ausgemergelte Mann stand am Fenster und fühlte, wie ihm die Tränen über die eingefallenen, unrasierten Backen liefen, hörte, wie er zu schluchzen begann, und hatte Mühe, sich an den Ledergurt des Fensters zu klammern, um nicht umzusinken.
Minden! Zu Hause! Nach zwölf Jahren zu Hause …
Nun zwang er sich doch, den Sack zu ergreifen und auszusteigen, weinend und schluchzend. Die Leute auf dem Bahnsteig sahen es, auch sie würgte es in der Kehle, aber sie waren taktvoll genug, dem Mann schweigend den Weg freizugeben und ihn nicht mit sinnlosem Gequatsche zu belästigen.
Und dann stand Fritz Bergschulte vor dem Bahnhof auf der Straße. Reger Verkehr flutete an ihm vorüber. Den größten Krach machten die rasselnden und klingelnden Straßenbahnen. Er wartete auf die Linie 9. Als sie kam, versäumte er aber fast das Einsteigen. Sie klingelte schon wieder ab. Im letzten Moment sprang er auf das Trittbrett und drängte sich mit seinem Sack in das Innere des Wagens.
»Einmal bis Ulmenstraße«, sagte er zum Schaffner. Dann starrte er aus dem Fenster.
Die ihm bekannten Straßen lagen in der hellen Morgensonne. Vieles hatte sich geändert – aber manches Alte war auch erhalten geblieben. Erinnerungen lebten auf.
Noch zwei Stationen, durchzuckte es ihn. Noch fünf Minuten, dann stehst du vor Lina und deinem Peter.
Jetzt noch 3 Minuten … Lina wird aufschreien … Ich hätte ihr vielleicht doch telegraphieren sollen … Oder sie vom Bahnhof aus anrufen sollen. Und der Peter wird fragen: »Wer ist der fremde Mann, Mutter …?«
Fritz Bergschulte preßte beide Fäuste gegen die Schläfen.
Das Herz begann zu pochen, in den Ohren brauste es.
Ulmenstraße.
Wie im Traum stieg er aus. Seinen Sack auf dem Buckel, blieb er an der Ecke stehen.
Er wagte nicht gleich, in die Straße hineinzugehen …
Das Haus Ulmenstraße 14 lag in einem kleinen Vorgarten, den kleine Rosenstöcke, schöne, mit weißen Steinen eingefaßte Beete mit bunten Frühlingsblumen und eine weiß gestrichene Bank neben der hellen Eichentür des Hauses zierten. In dieser stillen Gegend am Rande Mindens konnte man an den Abenden beschaulich in einem Vorgarten sitzen und eine Zigarre rauchen, ohne den Charakter einer Großstadt sonderlich zu stören. Das Haus selbst, mit spitzem Giebel und eineinhalb Etagen hoch, war neu verputzt und glänzte in der Sonne, als sei es eben erst erbaut worden. Die hellgrünen Fensterläden an den Parterrefenstern mußten vor ganz kurzem erst zurückgestoßen worden sein – man sah das daran, daß sie noch nicht mit den Haltebolzen an der Hauswand befestigt waren.
Fritz Bergschulte stand vor seinem Haus auf der Straße und betrachtete es lange und mit wild schlagendem Herzen.
Sie sind eben erst aufgestanden, dachte er. Lina wird jetzt den Peter waschen und den Kaffee kochen. Und das Haus haben sie verputzen lassen, sie haben Rosen gepflanzt und ein Steinbeet angelegt. Wie sauber das alles aussieht, wie gepflegt. Die Lina ist wirklich eine gute, eine herrliche Frau, auf die man sich verlassen kann, auch, wenn man zwölf Jahre verschollen ist.
Er stützte sich auf seinen Sack und kratzte sich den stoppeligen Schädel. Ob ich einfach hingehe zum Haus und schelle? grübelte er weiter. Oder ob ich an die Fenster klopfe? Ob ich einfach in den Garten hinters Haus gehe und rufe, so, wie ich es immer tat, wenn ich die Beete umgrub und etwas zum Trinken wollte? »Linchen! Pappi hat Durst …!«
Fritz Bergschulte lächelte und nahm seinen Sack auf. Leise öffnete er die Vorgartentür, betrat den Kiesweg und ging um das Haus in den Garten. Ein wenig erstaunt blieb er stehen, denn aus dem Gemüsebeet war eine saftige Wiese geworden, und dort wo das Mistbeet lag, stand jetzt ein kleines Gartenhaus, bunt, ein wenig luxuriös, dennoch gemütlich.
Die Lina, dachte Fritz und schüttelte den Kopf. Hatte ja immer den Drang, ein wenig mehr zu sein, als sie war – aber deswegen gleich ein Gartenhaus, wo Gemüse heute doch viel wichtiger ist? Wer weiß, wann ich eine Stellung bekommen werde, und bis dahin heißt es, sich krumm zu legen und jeden Pfennig zu sparen.
Er lehnte den Sack an die hintere Hauswand, trat dann auf die Wiese, schob die Mütze in den Nacken und begann, laut zu pfeifen. Es waren keine schönen Töne, die er hervorbrachte, denn seine Kehle war trocken, das Herz schlug ihm rasend, und seine Hand zitterte, als er jetzt die dicke Steppjacke aufknöpfte.
Jetzt kommt Lina, dachte er und spürte,
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