Mottentanz
irgendetwas Seltsames vor sich ging, konnte ich mir doch nie und nimmer vorstellen, dass Sean das getan hatte, was er getan hatte.
Aber dann geschah etwas anderes. Da war dieses Mädchen namens Jeannie, welches ich im Mothership kennengelernt hatte. Sie war einfach ein lustiges Mädel aus Texas mit einem starken texanischen Akzent und war erst seit ein paar Tagen in der Stadt. Aber sie war am Abend von Jasons Party dort gewesen und kam dann auch zu seiner Beerdigung. Am
nächsten Tag war sie im Mothership und wir saßen beide draußen vor der Tür und sie tröstete mich, und ich nehme an, sie hatte ihren Arm um meinen. Und ich erinnere mich, wie ich aufsah und beobachtete, wie Sean die Zufahrt hinaufkam und sie voller Hass anstarrte. Am nächsten Tag fuhr sie zurück nach Texas und hatte einen Autounfall, und der Gutachter der Versicherung meinte, dass jemand mit ihren Bremsen Scheiße gebaut hätte. Gott sei Dank war sie angeschnallt, weshalb sie einigermaßen glimpflich davonkam, aber dieses Ereignis sorgte dafür, dass es in meinem Kopf endlich klick machte. Als ich die Sache mit Jeannie herausfand, wurde mir plötzlich klar, was geschehen war.«
Nina lehnt sich im Sitz zurück. Mein Herz pocht. »Was hast du dann getan?«, frage ich.
»Sobald ich herausgefunden hatte, was passiert war, ging ich zur Polizei. Aber alles, was die meinten, war, sie würden ›der Sache nachgehen‹.« Nina bildet mit ihren Fingern Anführungszeichen. »Es war offensichtlich, dass sie dachten, ich sei verrückt, und mich nicht ernst nahmen und wahrscheinlich überhaupt gar nichts unternehmen würden. Ich ging also zu seiner Mutter und seinem Stiefvater und versuchte, mit ihnen zu sprechen, aber es war vollkommen sinnlos. Während dieser Zeit wohnte ich immer noch im Mothership. Ich hatte das Gefühl, dass ich da nicht wegkonnte oder jedenfalls nicht nach Hause, ich war einfach zu fertig. Sean kam immer wieder vorbei, um mich zu besuchen, und schließlich versteckte ich mich im Keller, damit alle dachten, ich sei nicht mehr da. Doch dann musste ich an dich und an Mom denken. Was würde Sean, der fähig war, seinen eigenen
Bruder umzubringen und die Bremsen irgendeines Mädchens durchzuschlitzen, nur weil sie ihren Arm um mich gelegt hatte, den Leuten antun, die mir am meisten bedeuteten? Würde es nicht endlich dazu führen, dass ich ihn brauchte , wenn er euch beide nur ermordete? Das war es schließlich, was er wollte, oder? Ich beschloss, dass der einzige Weg, eure Sicherheit nicht zu gefährden, die Flucht sei…« Nina schweigt einen Moment. »Und so floh ich.«
Sie dreht sich zu mir um, ihre Augen sind feucht. »Es tut mir so, so, so sehr leid, was du durchmachen musstest. Aber ich kenne dich, Belly, und ich weiß, wenn du irgendeine Ahnung davon gehabt hättest, was da vor sich ging, hättest du darauf bestanden, mir zu helfen.« Nina sieht mich an.
»Aber ich wusste auch, wenn du versucht hättest, mir zu helfen, wärst du nicht sicher gewesen. Ich beschloss also, dass es für dich besser sei, mich zu vermissen und noch am Leben zu sein, um mich zu vermissen … Bevor Max aufbrach und nach Hause zurückfuhr, lud er mich ein, falls ich wollte, eine Weile bei ihm in Denver zu wohnen. Und ich wusste nicht, was ich sonst mit mir anfangen sollte. Also stieg ich in den Bus und fuhr los. Ich hatte seine Nummer auf diese kleine Papp-Kreditkarte geschrieben, die ich als Lesezeichen verwendet hatte, doch dann vergaß ich sie im Mothership und hatte, als ich in Denver ankam, keinen Schimmer, wo ich hingehen sollte. Geld hatte ich auch nicht und meine Kreditkarte hatte ich im Bus liegen lassen und musste sie sperren lassen. Ich endete schließlich in diesem Tattooladen und bekam das hier, in Gedenken an Jason.« Nina lehnt sich nach vorne und zieht den Ausschnitt ihres Tops leicht nach unten,
um drei kleine Nummern aufzudecken, die in Schwarz direkt über ihrem Herz tätowiert sind. »Jasons Geburtstag«, sagt Nina und klopft darauf. »So wie er an diesem Tag war, so will ich ihn in Erinnerung behalten.« Nina lässt ihr Top los und holt tief Luft. »Und dann wohnte ich schließlich etwa eine Woche lang bei der Frau, der der Tattoo-Shop gehörte, bevor ich mit Max Kontakt aufnahm. Danach arbeitete ich eine Weile für sie. So blieb ich also in Denver und tat so, als wäre mein Kopf auf meinen Körper geschraubt, während er meilenweit in den Himmel hinausschwebte. Ich wachte jeden Morgen auf und vergaß, wo ich war und wer ich war und
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