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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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eigentlich erst hätte losgehen sollen, stand er schon auf und marschierte zum Ausgang.
    Das machte mir keine Sorgen. Ich hatte die Tür von innen abgeschlossen, und zum Aufmachen brauchte man den Schlüssel – der zufällig in meiner Tasche steckte. Aber ich wollte nicht, dass er den Griff anfasste und daran rüttelte. Womöglich hätte er mich angeschrien, ihn rauszulassen, und dann hätte ich garantiert das halbe Dutzend Angestellte am Hals gehabt, die um diese Zeit in der Küche arbeiteten. Jedenfalls hatte ich bloß diese Kleinigkeit im Kopf und dachte nicht an die weitreichenden Konsequenzen, als ich die Schreibtischschublade aufzog und die Pistole des Meisters rausnahm. Und dieser Fehler brach mir das Genick. Als ich die Waffe auf Dizzy richtete, überschritt ich die Grenze zwischen leerem Gerede und strafbarer Handlung, und jetzt war der Albtraum, den ich in Gang gesetzt hatte, nicht mehr aufzuhalten. Aber die Waffe war doch das Wesentliche, oder? Sie war der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Sache, und irgendwann musste sie ja aus der Schublade kommen. Ich musste Dizzy erschießen – und so in die Wüste zurückgehen und endlich erledigen, was ich damals unterlassen hatte. Ich musste ihn zwingen, genauso um den Tod zu betteln wie Meister Yehudi, und dann musste ich den Mut zum Handeln aufbringen und mein Unrecht wiedergutmachen.
    Das alles spielt jetzt keine Rolle mehr. Als Dizzy aufstand, war schon alles verpfuscht, und dass ich die Waffe nahm, war bloß ein verzweifelter Versuch, das Gesicht zu wahren. Ich sagte, er solle sich wieder hinsetzen, und brachte ihn in den nächsten fünfzehn Minuten weit mehr zum Schwitzen, als ich je beabsichtigt hatte. Trotz seines Körperbaus und seiner Großspurigkeit war Dean ein Feigling, der bei jeder Schlägerei hinter dem nächsten Möbelstück in Deckung ging. Das war mir längst bekannt, aber dass ihm die Pistole solche Angst einjagen würde, hätte ich nicht gedacht. Er fing tatsächlich an zu heulen, und als er da so ächzend und plärrend vor mir saß, hätte ich beinah abgedrückt, bloß um ihn zum Schweigen zu bringen. Er flehte mich um sein Leben an – nicht schießen, lass mich leben –, und das war alles so unpassend, so anders, als ich es mir vorgestellt hatte, dass ich weder ein noch aus wusste. Vielleicht hätten wir den ganzen Tag so gesessen, aber dann, gegen zwölf, klopfte jemand an die Tür. Ich hatte zwar klare Anweisung hinterlassen, mich nicht zu stören, aber es klopfte trotzdem jemand an.
    «Diz?», sagte eine Frauenstimme. «Bist du da drin, Diz?»
    Es war Pat, seine Frau: ein rigoroses, kaltschnäuziges Weibsstück von der schlimmsten Sorte. Sie war gekommen, um ihren Mann zum Essen bei Lemmele’s abzuholen, und natürlich hatte Dizzy ihr gesagt, wo sie ihn finden würde – auch so eine Komplikation, an die ich nicht gedacht hatte. Sie war in meinen Club gestiefelt und hatte nach ihrem Pantoffelhelden gefragt, und als sie in der Küche erst den zweiten Koch (der grade Kartoffeln und Karotten schnippelte) beim Kragen hatte, machte sie ein solches Theater, dass der arme Teufel schließlich alles ausplauderte. Er führte sie die Treppe hoch und durch den Flur, und so kam es, dass sie plötzlich vor der Bürotür stand und mit ihren verfluchten Griffeln auf dem weißen Furnier herumhämmerte.
    Statt Dizzy eine Kugel durch den Kopf zu jagen, blieb mir nichts anderes übrig, als den Revolver wegzustecken und die Tür aufzumachen. Trotzdem war ich geliefert, es sei denn, der Lulatsch schlug sich auf meine Seite und hielt den Mund. Zehn Sekunden lang hing mein Leben an einem hauchdünnen Faden: Wenn es ihm peinlich war, ihr zu erzählen, was für eine Angst er ausgestanden hatte, würde er die Sache für sich behalten. Ich setzte mein freundlichstes, charmantestes Lächeln auf, als Mrs. Dean ins Zimmer trat, aber kaum hatte ihr schniefender Gatte sie erblickt, legte er auch schon los. «Der kleine Scheißkerl wollte mich umbringen!», quiekte er mit sich überschlagender Stimme. «Er hat mir eine Pistole an den Kopf gehalten, der kleine Scheißkerl, und er wollte abdrücken!»
    Diese Worte beförderten mich aus dem Nachtclub-Geschäft. Denn Pat und Dizzy gingen nicht etwa zu ihrem reservierten Tisch bei Lemmele’s, sondern marschierten aus meinem Büro direkt aufs nächste Polizeirevier und erstatteten Anzeige gegen mich. Pat sagte schon was dergleichen, als sie mir die Tür vor der Nase zuknallte, aber ich rührte keinen Finger. Ich blieb

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