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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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dachte ich ernsthaft daran, mich mit Hilfe eines Attests vom Dienst befreien zu lassen, brachte aber einfach nicht den Mut dazu auf. Mein Plan sah so aus, dass ich heimlich wieder mit dem Fliegen anfangen und so heftige Anfälle herbeiführen wollte, dass ich kampfunfähig wäre und man mich nach Hause schicken müsste. Dummerweise gab es für mich aber kein Zuhause mehr, wo ich hätte hingehen können, und ein bisschen Nachdenken über meine Lage brachte mich zu der Erkenntnis, dass mir die Ungewissheit des Kampfes lieber war als die Gewissheit dieser entsetzlichen Kopfschmerzen.
    Ich zeichnete mich als Soldat nicht aus, blamierte mich aber auch nicht. Ich tat meine Arbeit, ging Schwierigkeiten aus dem Weg, machte alles mit und wurde nicht getötet. Als ich im November 1945 endlich wieder zurückverfrachtet wurde, war ich so ausgebrannt, dass ich keinen Meter in die Zukunft denken oder irgendwelche Pläne machen konnte. Die nächsten drei, vier Jahre trieb ich mich rum, hauptsächlich an der Ostküste. Am längsten war ich in Boston. Dort arbeitete ich als Barkeeper und verbesserte mein Einkommen nebenher mit Pferdewetten und einer wöchentlichen Pokerpartie in Spiro’s Spielsalon im North End. Es ging immer nur um mittelmäßige Einsätze, aber auch wenn man ständig kleinere Beträge gewinnt, läppert sich einiges zusammen. Ich war schon kurz davor, einen eigenen Laden aufzumachen, als ich plötzlich in eine Pechsträhne geriet. Meine Ersparnisse schmolzen dahin, ich machte Schulden, und wenige Monate darauf musste ich mich aus der Stadt verkrümeln, um die Kredithaie loszuwerden, bei denen ich verschuldet war. Von dort ging ich nach Long Island und fand einen Job am Bau. Es waren die Jahre, in denen überall neue Vororte entstanden, und ich folgte einfach dem Geld und trug meinen Teil dazu bei, die Landschaft zu verändern und der Welt ihr heutiges Gesicht zu geben. All diese Farmhäuser mit ihrem gepflegten Rasen und den dünnen, in Jute gehüllten Bäumchen – die habe ich dort hingestellt. Die Arbeit war langweilig, aber ich blieb achtzehn Monate dabei. Einmal ließ ich mich aus Gründen, die ich nicht erklären kann, zur Ehe überreden. Sie hielt kein halbes Jahr, und die ganze Angelegenheit liegt für mich inzwischen so im Dunkeln, dass ich kaum noch weiß, wie meine Frau ausgesehen hat. Ich muss mich schon sehr anstrengen, um mich überhaupt an ihren Namen zu erinnern.
    Ich hatte keine Ahnung, was mit mir nicht stimmte. Ich war immer so schnell dabei gewesen, Gelegenheiten zu ergreifen und zu meinem Vorteil zu nutzen, nun aber war ich schwerfällig geworden, unentschlossen, unfähig, mit dem Strom zu schwimmen. Die Welt drehte sich an mir vorüber, und das Seltsamste daran war, dass es mir nichts ausmachte. Ich hatte keine Ziele mehr. Ich war weder auf eine Karriere aus, noch suchte ich eine Herausforderung. Ich wollte bloß meine Ruhe haben, mich durchschlagen, so gut es ging, und sehen, wohin mich die Welt treiben würde. Meine großen Träume waren ausgeträumt. Sie hatten mich nirgendwohin geführt, und jetzt war ich zu erschöpft, um mir neue einfallen zu lassen. Sollten zur Abwechslung mal andere die Zügel in die Hand nehmen. Ich hatte es vor langer Zeit aufgegeben und fand es nicht der Mühe wert, danach zu greifen.
    1950 zog ich über den Fluss in ein billiges Apartment in Newark, New Jersey, wo ich meinen neunten oder zehnten Job nach dem Krieg antrat. Die Meyerhoff-Großbäckerei beschäftigte über zweihundert Leute und produzierte in drei Acht-Stunden-Schichten alle erdenklichen Backwaren. Es gab allein sieben verschiedene Brotsorten: weißes, Roggen, Weizenvollkorn, Pumpernickel, Rosinen, Zimt-Rosinen und bayrisches Graubrot. Dazu zwölf Sorten Kekse, zehn Sorten Kuchen, sechs Sorten Doughnuts, Grissini, Paniermehl und Brötchen – kein Wunder, dass die Fabrik vierundzwanzig Stunden am Tag arbeitete. Als Erstes bekam ich die Aufgabe, am Fließband für den reibungslosen Lauf der Zellophanhüllen zu sorgen, in denen die vorgeschnittenen Brote verpackt wurden. Ich wollte eigentlich höchstens ein paar Monate bleiben, aber als ich den Dreh erst raus hatte, fand ich es gar nicht mehr so übel, dort meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es duftete so angenehm in dieser Fabrik, immer hingen die Gerüche von Zucker und frischem Brot in der Luft, sodass sich die Stunden längst nicht so zäh hinschleppten wie bei meinen früheren Jobs. Das spielte jedenfalls auch eine Rolle, aber noch wichtiger

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