Mr. Vertigo
langweilig gewesen, und auf weitere geschäftliche Betätigung verspürte ich mit sechsundsiebzig auch keine Lust mehr. Die Arbeit hatte mir um Marions willen Spaß gemacht, aber ohne ihre ermunternde Gegenwart sah ich keinen Sinn mehr darin. Ich dachte schon daran, für ein paar Monate aus Kansas wegzugehen und mir die Welt anzusehen, aber bevor ich genauere Pläne machen konnte, hatte ich die rettende Idee, dieses Buch zu schreiben. Ich kann wirklich nicht sagen, wie es dazu kam. Eines Morgens beim Aufstehen war sie einfach da, und keine Stunde später saß ich mit einem Füller in der Hand am Schreibtisch im oberen Wohnzimmer und kritzelte die ersten Sätze. Ich hatte keinen Zweifel, dass ich da was tat, was getan werden musste, und diese Überzeugung war so stark, dass mir die Idee mit dem Buch bloß in einem Traum gekommen sein kann – allerdings in einem von denen, an die man sich nicht erinnert, die verschwinden, sobald man aufwacht und mit beiden Augen in die Wirklichkeit blickt.
Seit dem vorigen August habe ich täglich daran gearbeitet und in meiner plumpen Altmännerschrift ein Wort ans andere gereiht. Begonnen habe ich mit einem Schulaufsatzheft aus dem Kaufhaus, einem dieser fest eingebundenen Dinger mit schwarzweiß marmoriertem Umschlag und breiten blauen Linien; inzwischen habe ich fast dreizehn davon vollgeschrieben, also etwa eins pro Monat. Noch hat niemand was davon zu Gesicht bekommen, und jetzt, da ich am Ende angelangt bin, kommt mir der Gedanke, dass es auch so bleiben sollte – zumindest solange ich noch unter den Lebenden weile. Jedes Wort in diesen dreizehn Heften ist wahr, aber ich verwette meine beiden Ellbogen, dass mir das nicht allzu viele Leute abnehmen würden. Nicht dass ich Angst habe, als Lügner bezeichnet zu werden, aber ich bin jetzt einfach zu alt, als dass ich meine Zeit damit verschwenden wollte, mich gegen Idioten zu verteidigen. Bei meinen Fahrten mit Meister Yehudi sind mir genug ungläubige Thomasse über den Weg gelaufen, und jetzt hab ich Besseres zu tun; wenn dieses Buch fertig ist, muss ich mich anderen Dingen zuwenden. Morgen früh werde ich als Erstes zur Bank gehen und die dreizehn Hefte in mein Tresorfach legen. Dann gehe ich um die Ecke zu meinem Anwalt John Fusco und lasse ihn einen Zusatz zu meinem Testament aufnehmen, wonach der Inhalt dieses Tresors für meinen Neffen Daniel Quinn bestimmt ist. Dan wird wissen, was er mit meinem Buch anfangen soll. Er wird die Rechtschreibfehler korrigieren und eine saubere Abschrift tippen lassen, und wenn Mr. Vertigo dann als Buch erscheint, werde ich nicht miterleben müssen, wie Besserwisser und Schwachköpfe mich in der Luft zerreißen. Dann bin ich nämlich längst tot, und Sie können sich drauf verlassen, ich werde sie auslachen – von oben oder unten, wo immer ich landen werde.
Seit vier Jahren kommt mehrmals die Woche eine Putzfrau zu mir ins Haus. Sie heißt Yolanda Abraham und stammt von irgendeiner Schönwetter-Insel – Jamaica oder Trinidad, ich hab’s vergessen. Gesprächig kann man sie nicht gerade nennen, aber wir kennen uns schon so lange, dass wir auf ziemlich vertrautem Fuß miteinander stehen, und in Marions letzten Monaten war sie mir wirklich eine große Hilfe. Sie ist zwischen dreißig und fünfunddreißig, eine mollige Schwarze mit trägem, anmutigem Gang und schöner Stimme. Soweit ich weiß, ist Yolanda nicht verheiratet, hat aber einen achtjährigen Sohn, der Yusef heißt. Seit vier Jahren gibt sie ihren Sprössling jeden Samstag bei mir ab und macht ihre Arbeit, und nachdem ich den Jungen mehr als sein halbes Leben lang beobachtet habe, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass mir dieser kleine Rabauke und Klugscheißer entsetzlich auf den Wecker geht; der einzige Zweck seines Daseins ist es, Chaos und böses Blut zu stiften. Zu allem Überfluss ist er auch noch eins der hässlichsten Kinder, die ich je gesehen habe. Er hat ein zerklüftetes, eingefallenes, unsymmetrisches Gesicht, und der dazugehörige Körper ist nichts als ein jämmerliches, spindeldürres Gerippe – auch wenn jedes einzelne Pfund davon stärker und gelenkiger ist als bei den meisten ausgewachsenen Footballspielern. Nach allem, was er meinen Schienbeinen, meinen Daumen und meinen Zehen angetan hat, kann ich den Jungen nur hassen, aber ich erkenne in ihm auch mich selbst wieder, als ich in dem Alter war, und da er eine gradezu erschreckende Ähnlichkeit mit Äsop besitzt – so sehr, dass es Marion und mir den
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