Mr. Vertigo
blieb für eine volle Sechzig-Tage-Kur im Saint Barnabas Hospital in Livingston, und dort begann ich endlich wieder Träume zu haben. Ich meine nicht Tagträume oder Gedanken an die Zukunft, sondern echte Träume im Schlaf: lebhafte Ausstattungsfilme, die einen Monat lang fast nächtlich in meinem Kopf abliefen. Vielleicht lag es an den Medikamenten und Beruhigungsmitteln, die ich bekam, ich weiß es nicht, aber vierundvierzig Jahre nach meiner letzten Vorstellung als Walt der Wunderknabe kam das alles auf einmal zurück. Ich war wieder mit Meister Yehudi auf Tournee, fuhr mit dem Pierce Arrow von Stadt zu Stadt und führte jeden Abend meine Nummer auf. Das machte mich ungeheuer glücklich und brachte Wonnen zurück, von denen ich längst vergessen hatte, dass ich sie empfinden konnte. Ich ging wieder auf dem Wasser, führte stolz meine Kunststücke vor, bewegte mich ohne Schmerzen durch die Luft und schwebte und kreiselte und tänzelte mit der ganzen alten Virtuosität und Selbstsicherheit vor riesigen Menschenmengen herum. Ich hatte so viele Jahre darum gekämpft, am Boden zu bleiben und wie jeder andere zu sein, und jetzt sprudelte das alles wieder hoch wie ein nächtliches Feuerwerk in Technicolor. Diese Träume stellten mein ganzes Leben auf den Kopf. Sie gaben mir meinen Stolz zurück, und danach schämte ich mich nicht mehr, wenn ich an die Vergangenheit zurückdachte. Ich weiß nicht, wie ich das anders sagen soll. Der Meister hatte mir verziehen. Wegen Molly, wegen der Liebe und Trauer, die ich für sie empfunden hatte, hatte er meine Schulden bei ihm gestrichen, und jetzt rief er nach mir und bat mich, seiner zu gedenken. Das alles lässt sich nicht beweisen, aber die Wirkung war unbestreitbar da. Etwas in meinem Innern war fortgewälzt worden, und ich verließ dieses Säuferheim so nüchtern, wie ich noch heute bin. Ich war achtundfünfzig Jahre alt, mein Leben war ein Scherbenhaufen, und trotzdem empfand ich kein allzu großes Bedauern. Im Grunde genommen fühlte ich mich sogar ziemlich gut.
Mollys Arztrechnungen hatten alles Geld verschlungen, das wir je hatten sparen können. Ich war vier Monate mit der Miete im Rückstand, der Hausbesitzer drohte, mich an die Luft zu setzen, und mein einziger Besitz war ein Auto – ein sieben Jahre alter Ford Fairlane mit verbeultem Kühlergrill und defektem Vergaser. Ungefähr drei Tage nach meiner Entlassung aus der Klinik rief mein Lieblingsneffe aus Denver an und erzählte mir von einem Job. Dan war das Genie der Familie – der erste College-Professor, den sie je hatten –, und er lebte mit Frau und Sohn schon seit ein paar Jahren da draußen. Da er schon von seinem Vater wusste, wie sehr ich in der Klemme steckte, konnte ich es mir sparen, ihm was von meinem dicken Bankkonto vorzuschwindeln. Der Job sei nicht umwerfend, sagte er, aber ein Tapetenwechsel würde mir vielleicht ganz guttun. Was ist das für ein Job?, fragte ich. Wartungsmonteur, antwortete er und gab sich Mühe, es nicht allzu komisch klingen zu lassen. Du meinst: Hausmeister? fragte ich. Richtig, sagte er, ein Besenreiter. In dem Gebäude, wo er seinen Unterricht abhielt, sei eine Stelle frei geworden, und wenn ich Lust hätte, nach Denver zu ziehen, würde er ein Wort für mich einlegen und die Angelegenheit deichseln. Sicher, sagte ich, warum auch nicht, zum Teufel, und zwei Tage später packte ich ein paar Sachen in den Ford und brach in die Rocky Mountains auf.
Ich bin nie in Denver angekommen. Nicht, weil das Auto kaputtging, und auch nicht, weil mir der Job als Hausmeister bei genauerem Überlegen plötzlich nicht mehr zusagte, sondern weil sich unterwegs was anderes ergab und ich statt des einen Ziels einfach das andere ansteuerte. Es ist wirklich nicht schwer zu erklären. Die Fahrt, so bald nach all diesen Träumen in der Klinik, brachte eine Flut von Erinnerungen mit sich, und als ich über die Grenze nach Kansas hineinfuhr, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, einen kleinen sentimentalen Abstecher in den Süden zu machen. Es ist kein so großer Umweg, sagte ich mir, Dan wird nichts dagegen haben, wenn ich mich ein bisschen verspäte. Ich wollte bloß ein paar Stunden in Wichita verbringen – bei Mrs. Witherspoons Haus vorbeifahren und nachsehen, wie es dort jetzt aussah. Einmal, kurz nach dem Krieg, hatte ich versucht, sie in New York aufzustöbern, aber sie stand nicht im Telefonbuch, und den Namen ihrer Firma hatte ich vergessen. Inzwischen war sie wohl längst
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