Muschelseide
ruhig auf den Knien. Erst als ich verstummte und ein Seufzer ihre Brust dehnte, hob sie nach kurzer Stille den Kopf. Ihre Augen glänzten feucht, doch um ihre Lippen spielte ein kleines Lächeln.
»Sie sagten, dass Ihre Großtante trotz wiederholter und gründlicher Nachforschungen nie etwas über Shinzo in Erfahrung bringen konnte? Nun, darauf weiß ich eine Antwort. Hatsue heiratete, wie Sie wissen. Ihr Mann, Yasuo Sato, stammte aus Tokio, hatte aber eine Firma in Kyoto gegründet. Hatsues Mutter starb, als Shinzo, der jüngste Sohn, noch Hochschüler war. Hatsue sorgte dafür, dass Shinzo sein Studium in Kyoto abschließen konnte. Er wurde ein hervorragender Pädagoge, der bald selbst unterrichtete. In seiner Freizeit spielte er Tennis und zwar so gut, dass er 1933 sogar für die Olympiamannschaft vorgeschlagen wurde. Doch er lehnte ab, weil das intensive Training zu viel Zeit beansprucht hätte. Dann brach der Krieg aus. In diesen schweren Zeiten zogen Hatsue und ihr Mann, die selbst keine Kinder hatten, zu den Schwiegereltern nach Tokio. Shinzo diente in Malaysia, hatte jedoch das Glück, den Krieg unversehrt zu überstehen. Wieder in Japan, führte ihn der Zufall zurück in seine Geburtsstadt Takayama, wo ein Lehrstuhl an der Hochschule frei war. Dort lernte er auf dem Tennisplatz eine junge Frau kennen, in die er sich verliebte. Sie hieß Hiroko Kimura. Ihre Eltern führten einen ›Ryokan‹ – eine Herberge im traditionellen Stil – und waren sehr wohl habend. In Städten wie Takayama war es noch üblich, dass die Eltern die Ehepartner für die Kinder bestimmten. Trotzdem, die Nachkriegszeit hatte alte Vorschriften gelockert, und Hirokos Eltern waren aufgeschlossene Leute. Sie ließen es zu, dass ihre Tochter aus Liebe heiratete, stellten jedoch eine Bedingung: Hiroko war ihr einziges Kind. Um den Fortbestand der Familie zu sichern, baten sie Shinzo, seinen eigenen Namen Araki aufzugeben und fortan den Namen der Braut zu tragen. Shinzo willigte ein, umso mehr, da er selbst außer der Schwester keine Angehörigen mehr hatte, auf die er Rücksicht nehmen musste. Er trug fortan den Namen Kimura. «
Kazuo schnippte kurz mit den Fingern, bevor er sich zurücklehnte und mich ansah.
»Es ist meine Schuld, dass ich diese Möglichkeit nicht berücksichtigt habe! Francesca kannte den Brauch natürlich nicht. Jetzt wird mir vieles klar.«
Misa nickte bestätigend, mit wippendem Haar.
»Es ist eine typisch japanische Gepflogenheit. Sie hängt mit der Ahnenverehrung und der Machtstellung der Frau zusammen. Früher war es ja üblich, dass der Mann in das Haus seiner Gattin zog, wo er formell empfangen wurde. Die Ehefrauen gaben den Kindern ihren Namen, und sie erzogen die Kinder in ihrem Haus. Der Ausdruck ›Eltern‹ bezeichnete früher nur die Mutter, zugleich bedeutete er aber auch ›Ahne‹. Es war also die Mutter, die die Abstammung bestimmte. Und es waren auch immer die Töchter, die das Vermögen der Mutter erbten. Aber es stimmt, dass nur wenige Ausländer davon Kenntnis haben.«
Ich schluckte und sagte:
»Es mag sich komisch anhören, aber ich habe das Gefühl, dass wir auf verwickelte Weise verwandt sind.«
Misas Blick leuchtete hell und golden auf.
»Dieses Gefühl habe ich auch!«
Und dann lachten wir beide, lachten, um nicht in Tränen auszubrechen. Und Kazuo fragte Misa:
»Wo leben jetzt Ihre Großeltern?«
»In Takayama wie einst. Sie haben die Herberge der Eltern zu einem Wohnhaus umgestaltet. Masao, mein Großvater, hatte am Weiterführen des Unternehmens kein Interesse, und die Großmutter sagt, dass sie keine Lust mehr hat, Leute um sich zu haben. Das Haus hat zwölf Zimmer. Zum Jahreswechsel finden wir uns alle dort ein, meine Eltern, mein Bruder, seine Frau und seine zwei Kinder. Ich komme mit Kenji, meinem Partner, und es hat Platz für alle.«
»Die Muschelseide wird also von den Großeltern verwahrt?«
Misa strich ihr Haar mit lebhafter Gebärde aus der Stirn.
»Ja, natürlich. Meine Großmutter erhielt es von ihrem Vater Shinzo. Wollen Sie die Großeltern besuchen? Dass wir Verwandte in Malta haben, wird sie vor Überraschung fast umwerfen«, setzte sie lachend hinzu. »Mein Großvater wird sich sofort an den Computer setzen und Informationen sammeln. Es eilt ein wenig, nicht wahr? Weil Sie ja nur für kurze Zeit hier sind?«
Wir sahen einander an, beide sehr bewegt und etwas verwirrt, schwankend zwischen Weinen und Lachen. Es war ein Uhr, die Mittagszeit war längst vorüber,
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