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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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1
  Ich bin tot
    Ein Toter bin ich nun, eine Leiche auf dem Grund
eines Brunnens. Schon längst tat ich meinen letzten Atemzug, schlug mein Herz
ein letztes Mal, doch niemand weiß, was mir geschah, nur mein ruchloser
Mörder. Der aber, widerlicher Schuft, hat auf meinen Atem gehorcht und mir den
Puls gefühlt, um sicherzugehen, daß ich wirklich tot war, dann hat er mir einen
Tritt in die Weiche versetzt, mich zum Brunnen geschleppt, hochgezerrt und
hineinfallen lassen. Mein Schädel, eingeschlagen von einem Stein, wurde beim
Sturz in den Brunnen gänzlich zertrümmert, meine Stirn, meine Wangen wurden
zerdrückt und waren hin, meine Knochen brachen, mein Mund füllte sich mit Blut.
    Vor vier Tagen schon hätte ich
heimkommen müssen – meine Frau und die Kinder sind auf der Suche nach mir.
Meine Tochter, ganz erschöpft vom Weinen, blickt zum Gartentor; aller Augen
sind auf die Straße, auf das Tor gerichtet.
    Sind die Augen wirklich auf das Tor
gerichtet? Auch das weiß ich nicht. Vielleicht haben sich alle mit der Lage
schon abgefunden, wie schrecklich! Hat man doch an diesem Ort einfach das
Gefühl, jenes Leben, das man hinter sich ließ, ginge weiter wie bisher. Eine
unendliche Zeit war vergangen bis zu meiner Geburt. Und jetzt nach meinem Tod
kommt wieder eine unendlich währende Zeit! Nie habe ich darüber nachgedacht,
als ich noch am Leben war; ich ging meiner Wege und weilte im Licht zwischen
den beiden Zeiten der Dunkelheit.
    Ich war glücklich, muß glücklich
gewesen sein, das begreife ich jetzt. Meine Goldverzierungen waren die besten
in der Werkstatt unseres Padischahs, und keiner der anderen Vergolder konnte es
mit mir aufnehmen in dieser Meisterschaft. Zusammen mit solchen Arbeiten, die
man mir noch außerhalb der Werkstatt gab, bekam ich hundert Asper im Monat auf
die Hand. Dies alles macht meinen Tod natürlich noch unerträglicher.
    Mir oblag nur das Ornamentieren und
das Vergolden. Ich schmückte die Seitenränder, setzte Farbiges in den Rahmen,
zeichnete bunte Blätter, Blüten, Zweige, Rosen und Vögel ein. Wolkenkringel
im chinesischen Stil, dicht deckendes Blattwerk, bunte Wälder mit darin
verborgenen Antilopen, Galeeren, Sultane, Bäume, Paläste, Pferde, Jäger ...
Früher hatte ich hin und wieder das Innere eines Tellers ausgeschmückt,
manchmal die Rückseite eines Spiegels oder die Hohlseite eines Löffels,
manchmal die Zimmerdecke einer Villa am Ufer des Bosporus oder auch die eines
Landhauses, manchmal auch eine Truhe ... In den letzten Jahren jedoch habe ich
nur an Buchseiten gearbeitet, weil unser Sultan für Bücher mit Bildern viel
Geld bezahlte. Daß ich begriffen hätte, als mir der Tod begegnete, wie
unwichtig das Geld im Leben ist, kann ich nicht sagen. Die Bedeutung des
Geldes ist dem Menschen auch dann noch bewußt, wenn er das Leben verloren hat.
    Was ihr jetzt erlebt, ist ein
Wunder, denn ihr könnt meine Stimme trotz meines Zustandes vernehmen, und ich
weiß, ihr werdet nun folgendes denken: Laß das im Leben erworbene Geld! Beschreibe,
was dir dort widerfährt. Was kommt nach dem Tod, wo ist deine Seele, wie sind
sie, Paradies und Hölle, was siehst du dort? Wie ist das Sterben, hast du
Schmerzen? Ihr habt recht. Ich weiß ja, daß der Mensch im Leben nur allzugern
erfahren möchte, was im Jenseits vor sich geht. Erzählt man doch eine Geschichte
von einem, der nur dieser Wißbegier wegen auf blutigen Schlachtfeldern zwischen
den Leichen umhergewandert ist ... Dieser Mann, der meinte, unter den
sterbenden Kriegern vielleicht einen zu finden, der nach dem Hinscheiden wieder
zum Leben erwacht war und ihm die Geheimnisse der anderen Welt verraten
könnte, wurde von Timurs Soldaten als Feind betrachtet und deswegen mit einem
Schwerthieb in zwei Teile gespalten, so daß er am Ende glaubte, die Menschen
seien zweigeteilt in der anderen Welt.
    Nichts dergleichen. Mehr noch, ich
kann euch sagen, daß hier sogar die im Diesseits zwiegespaltenen Seelen wieder
eins geworden sind. Im Gegensatz zu dem aber, was die Gottlosen, Ungläubigen,
Ketzer und dem Teufel ergebenen Lästermäuler behaupten, gibt es ein Jenseits,
Allah sei Dank. Daß ich von dort zu euch spreche, ist der Beweis dafür.
Gestorben bin ich, doch nicht verschwunden, wie ihr seht. Andererseits muß ich
zugeben, daß mir nirgendwo eins der goldenen oder silbernen Paradiesschlößchen
über fließenden Wassern oder die Bäume mit riesigen Blättern und prallen
Früchten oder die schönen Jungfrauen begegnet sind, von

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