Muschelseide
hundert Jahre alt waren. Sie hatte uns zusammengeführt, mit magischer Beharrlichkeit. Sie wollte, dass wir eine gemeinsame Sprache fanden, irgendeine fiktive Ebene, in der auch sie, Cecilia, einen Platz beanspruchte. Es hatte mit den Dingen zu tun, die ihr versagt wurden, mit ihrem tragisch ungelebten Leben. Kazuo und ich waren Menschen einer anderen Zeit, unser Denken war frei, unsere Zärtlichkeiten ungehemmt. Wir lagen Mund an Mund in der brennenden Hitze des Verlangens. In meinem Kopf war ein seltsames Rauschen, das alle anderen Geräusche übertönte und an die Tiefen des Meeres erinnerte. Meine Haut spannte sich unter Kazuos Berührung, mein Leib, der straff und hart war, wie die Leiber der Taucherinnen eben sind, öffnete sich weit und feucht, wurde warm und nachgiebig wie dunkle Gewässer. Wir schaukelten langsam in vielen Strudeln. Ein tiefes Beben, das unsere Körper ganz einschloss, trug uns vorwärts, auf Wellen, die zeitlos waren wie das Begehren und das ewig brausende Meer.
Ich wachte auf, spät vermutlich. Wir hatten die Vorhänge nicht zugezogen, die Sonne schien mir hell in die Augen. Kazuo war schon wach, bewegte sich in der Küche, brachte Schüsseln und Schalen auf den Tisch. Ich zog die Yukata über, stand mit steifen Knien auf. Mir war, als schwankte ich.
»Müde?«, fragte er zärtlich.
»Nein, Zeitverschiebung.«
Ich lehnte mich kurz an ihn. Seine Lippen schmeckten nach Zahnpasta. Ich duschte, zuerst heiß, dann kalt, rubbelte mich mit dem Waschlappen ab, bis meine Haut ganz rot wurde. Dann knotete ich meine Yukata fest. Als ich vor dem Spiegel mein Haar entwirrte, sah ich die dunklen Ringe unter den Augen, und jede Pore meines Körpers bebte vor glücklicher Erinnerung.
»Setz dich«, sagte Kazuo.
Er hatte Rührei gemacht und Misosuppe gekocht, die frühmorgens wunderbar stärkend wirkte. Es gab auch Reis mit Sojabohnen, die säuerlich schmeckten. Dazu Toast, Konfitüre und jede Menge Kaffee, der so gut wie in Italien war. Wir aßen und tranken und fühlten uns in Hochform. Dann sagte Kazuo, dass wir allmählich gehen sollten. Misa hatte mitgeteilt, dass sie bis elf unterrichtete und uns danach in ihrem Büro erwartete.
»Es ist ein ziemlich langer Weg. Wir müssen mehrmals die U-Bahn wechseln. Und – tut mir leid – ich bin noch nicht ganz fest auf den Beinen!«
Ich zog mich schnell an, wickelte den Schal aus Muschelseide um meinen Hals. Er glänzte im hellen japanischen Licht, in einer ganz besonderen Tönung, die mich an reife Aprikosen denken ließ. Die Stoßzeit war vorbei. In der U-Bahn fanden wir sofort zwei Sitzplätze. Alle Wagen waren peinlich sauber, ohne Abfall und Kaugummi, ohne Graffiti. Die kalte Luft aus den Ventilatoren war mir unangenehm, aber den jungen Japanerinnen in ihren ausgeschnittenen Tops schien sie nichts auszumachen. Die Reisenden saßen dicht und still nebeneinander, keiner beachtete den Nachbarn. Augen glitten geistesabwesend über mich hinweg. Jeder verhielt sich, als ob es die Mitreisenden nicht gäbe. Einige lasen Mangas in dicken Taschenbuchausgaben, die meisten hielten ein Handy und starrten auf ihre SMS oder hörten Musik auf i-Pods. Sie schienen wie abgeschottet, in einer Art von verlängerter Privatsphäre.
Die Fahrt dauerte gut eine Stunde; wir mussten viermal umsteigen, durch endlose Gänge laufen, auf Rolltreppen hinauf- und hinabfahren. Die Uni befand sich in einem Außenquartier von Tokio, einer Mischung aus Bürogebäude und Wohnhäusern, die alle im Grünen lagen. Auf dem Weg zum Campus erklärte mir Kazuo, dass die Uni Studenten ausbildete, die sich im Software- und Medienbereich profilieren würden. Ich nickte, hörte aber nicht wirklich zu. Ich versuchte mir vorzustellen, dass ich in einigen Minuten eine Frau treffen würde, die auf sonderbar verworrene Weise zu Francescas und gleichzeitig auch zu meiner Vergangenheit gehörte. Ich fühlte mich dabei leicht benommen.
Wir gingen eine Straße entlang, dann an der nächsten Ecke nach rechts. Es war Mittagspause. Studenten strömten aus den Hörsälen, standen in Gruppen herum oder saßen auf dem gepflegten Rasen. Mädchen und Jungen waren gertenschlank, trendig gekleidet, hübsch oder zumindest anmutig. Die frisch gewaschenen Haare, schwarz, kastanienbraun oder blond gefärbt, wehten im Wind wie schönes Gefieder. Alle schwatzten und lachten, völlig mit sich selbst beschäftigt. Inzwischen gingen wir ein paar Stufen hinauf, die Glastüren öffneten sich, wir betraten die
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