Mut Proben
sehen Lenzen und andere Bildungsforscher auf uns zukommen. Wohlstand kann man nicht mehr an einen Ort binden und Bezugspersonen wechseln. »Alles ist hochriskant«, so Lenzen. Wichtig sei, Strategien zu finden, mit Unsicherheit umzugehen. Er selbst, sagt er, habe als Schüler Angst gehabt, Anforderungen nicht zu genügen. »Das Entscheidende«, was er da gelernt habe, sei gewesen, »mit Angst umzugehen: Sie bewältigen zu können, einschätzen zu können, wie riskant ist die Situation wirklich und welche Möglichkeiten habe ich«.
Angst ist gut als Alarm, wenn Lebensgefahr droht. Wir brauchen sie als Regulator, um Risiken einzuschätzen. Aber wenn sie uns ständig dazwischenfunkt, uns zum Stillstand zwingt, weil sie uns einflüstert, wir würden ohnehin versagen, dann beginnt sie, lästig zu werden. Dann müssen wir etwas unternehmen. Angst darf nicht zum Schraubstock werden, der uns unser Leben lang einzwängt.
»Man muss sich nur trauen«, sagt Boris Bandelow flapsig, einer der weltweit führenden Experten für Angststörungen. 169 Er weiß genau, dass es nicht so einfach ist. Der Göttinger hat die permanente Sorge, dass etwas misslingen könnte, die »Katastrophe«, von anderen Menschen zurückgewiesen zu werden, am eigenen Leib erlebt. Aber sein Beispiel bestätigt, die beste Strategie gegen die Angst lautet: Probe Mut.
»Ich war früher sehr schüchtern«, erzählt er, »und jetzt habe ich einen Fernsehauftritt nach dem anderen. Dass ich da nicht jedes Mal zusammenbreche, hängt damit zusammen, dass ich irgendwann die Öffentlichkeit gesucht habe. Indem ich zum Beispiel in Bands spiele. Da kann man schlecht wegrennen. Am Anfang habe ich nur mit meiner Gitarre in der Ecke gestanden und auf den Boden geguckt, bis mir bewusst wurde, ich kann auch mal ’ne Ansage machen.« Öffentlich zu singen, traut er sich allerdings bis heute nicht.
Bandelow hat erfahren, dass man Angst lenken kann – über einen Umweg. Er hat gelernt, Gitarre zu spielen, weil er weiß: Damit kann ich andere unterhalten, so ernte ich Anerkennung. Manchmal ist es sinnvoll, sich in kleinen Schritten einer Herausforderung zu nähern. Wer zum Beispiel Reiten lernen möchte, aber Angst hat hinunterzufallen, sollte sich erst einmal mit dem Pferd vertraut machen: es streicheln, mit ihm reden, striegeln, satteln. Dem Pferd tut es sicher auch gut, wenn sich niemand Wildfremdes auf seinen Rücken schwingt. Sollte ein Stall diese Zeit der Annäherung nicht gewähren, ist es der falsche Stall.
Als ich anfing zu klettern, habe ich mich aus geringer Höhe in den Gurt plumpsen lassen. Das gab mir Sicherheit; beruhigt stellte ich fest, der Gurt hält, ich sitze sogar bequem darin, und mein Seilpartner hält mich. Wer einen Kurs in einer asiatischen Kampfsporttechnik besucht, lernt als Erstes Fallen. Es ist erstaunlich, aus welcher Höhe und mit welchem Schwung man auf die dünne Matte krachen kann, ohne sich wehzutun. Anschließend hat man auch im Alltag keine Angst mehr zu stürzen.
Man muss Erfahrungen machen, um die Furcht vor ihnen zu verlieren. Goethe hat sich in Straßburg das Münster hinaufgequält, obwohl er höhenängstlich war, so hat er sich selbst geheilt. Das ist dann nicht mehr die Taktik der kleinen Schritte, das ist schon eher der Sprung ins kalte Wasser.
Furchtsame besitzen ein außerordentlich gutes Vorstellungsvermögen, sagt der Psychologe und Bergführer Martin Schwiersch. 170 Wer sich nicht traut, einen Balkon zu betreten, kann sich eben sehr gut vorstellen, dass ein Stahlträger nicht ewig hält und dass Schrauben am Geländer sich lösen können. »Der furchtsame Mensch durchschaut das Selbstverständliche und zittert im Ungefährlichen, weil er die darin liegende Gefahr erkennt. Und er staunt darüber, wie unbedarft andere sein können.« Wenn die Masse beim Rockkonzert johlt, gehen ihm in Sekundenbruchteilen Katastrophenszenarien durch den Kopf: »Er sieht bereits die zertrampelten Körper, die es leider auch gibt.«
Wagen und Wachsen
Das Problem des Ängstlichen ist, dass er seine überbordende Fantasie auf mögliche Desaster konzentriert. Die Vorstellung eines Gewinns kann sich in seinem Kopf nicht recht durchsetzen. Das trennt ihn vom Genuss. Was kann er tun?
Schwiersch empfiehlt die Natur, in kleinen Schritten wie in großen Sprüngen. »Schuhe ausziehen, barfuß in eine Wiese gehen – es gibt Menschen, die haben das jahrzehntelang nicht gemacht«. 171 »Neunundneunzig Prozent unseres Lebens finden im geregelten Raum
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