Mut Proben
mich zum letzten Mal einklinken und für viele Monate nicht mehr fliegen können, da war die Angst weg. Stattdessen spürte ich Wehmut. Der Trainer grinst und sagt: »Das hört sich gut an.«
160 Heilmann, Klaus: »Das Risikobarometer«, München 2010.
161 Deutscher Hängegleiterverband: »Sicherheit beim Gleitschirm- und Drachenfliegen«, in: dhv.de.
Wie wir Risikokompetenz erlangen: über Todeserfahrung, die Liebe zum Leben und das Glück der Mutigen
Die Saison 1999/2000 war eine schwarze für den Weißen Sport in den österreichischen Alpen. Neununddreißig Snowboarder und Skifahrer starben unter Lawinen; sie waren abseits von Pisten unterwegs. 162
Rund sechshunderttausend Jugendliche, das ist etwa jeder zweite in der Alpenrepublik, fühlt sich als »Freerider«. Sie tummeln sich in einer Szene von Skifahrern und Snowboardern, die denselben Slang sprechen, bestimmte Klamotten tragen und wissen, mit welcher Musik sie ihren iPod füttern müssen. 163
Deutsche Flachländer – wie ich – können sich kaum vorstellen, wie ein Abenteuerspielplatz mit Gipfeln über dreitausend Meter ringsum das Freizeitverhalten prägt. Während niedersächsische Teenager Mofarennen veranstalten oder Brandenburger Halbstarke durch Allen röhren, Saarländer mit dem Luftgewehr rumballern und Berliner in die Disco gehen, tun Österreicher auch all dies; vor allem aber surfen sie durch den Tiefschnee, möglichst dort, wo noch keiner war, am liebsten dort, wo Schilder mit Totenkopf vor Lebensgefahr warnen.
Nach der deprimierenden Saison 1999/2000 entwickelte ein Team von Pädagogen und Sportwissenschaftlern, Bergführern und Psychologen im Auftrag des Staates ein Konzept. Es soll Menschen davor bewahren, in den »Weißen Tod« zu surfen. Das Revolutionäre an diesem Projekt: Die Experten sagen den Jugendlichen nicht: »Meidet ungesicherte Hänge!« Sondern machen mit. Schultern die Ski und stapfen die Berge hinauf. Erzählen, wie man die Neigung eines Hangs und den Einfluss von Sonne und Wind einschätzt. Zeigen steile Nordhänge, wo jeden Moment ein Schneebrett abgehen kann, und Hänge, durchsetzt mit Wäldern und Felsen, auf denen der Schnee stabiler liegt.
Die zentrale Philosophie der Pädagogen lautet: Zum Überleben braucht der Mensch Risiko! »Niemand von uns hat Gehen ohne Stürzen gelernt«, sagt Jürgen Einwanger, einer der Initiatoren, »niemand Lieben ohne Leiden.« Man solle Menschen ermutigen, riskante Erfahrungen zu sammeln, um Persönlichkeit, Selbstwertgefühl und Verantwortung für sein Tun zu entwickeln.
Um diesen Prozess zu überleben, sollte man wissen, welchen Risiken man sich aussetzt. Der Name der Initiative lautet darum »Risflecting«, zusammengesetzt aus den Wörtern »risk« – Risiko – und »reflect« – nachdenken, sich besinnen.
Vom Nachdenken waren viele Freerider weit entfernt, sie handelten eher nach dem Motto: »Denn sie wissen nicht, was sie tun«. Ein dreiundzwanzigjähriger Risflecting-Teilnehmer erzählt rückblickend im Freerider-Slang: Da war »dieses komische Gefühl, das sich hin und wieder an einem superfetten Powder-Tag bemerkbar gemacht hat. Zumeist beim Aufstieg oder kurz vor dem Drop-in – Start, Einfahrt in den Hang. In diesen Momenten vollkommener Ruhe, wo du nur deinen eigenen Atem hörst, hab ich schon manchmal an diese Lawinensache gedacht. Und daran, dass das, was ich da grad tu, voll danebengehen kann, von einer Sekunde auf die andere, von volle fett zu volle tot. Und ich eigentlich überhaupt keine Ahnung hab, was da alles passieren kann – oder besser gesagt: wie ich mich verhalten kann, damit nichts passiert. Weil ich so gut wie null alpines Wissen hatte.«
Die wenigsten Jugendlichen sind bereits mit dem Großvater in die Berge gegangen oder mit den Eltern auf Skitour. Erst das coole, rebellische Lebensgefühl der Freerider zieht sie raus in die Natur. Wo sie sich alles andere als frei benehmen, sondern wie Lämmer in der Herde. Meist folgen sie einem testosterongeladenen Alpha-Tier, das die steilsten Hänge hinunterwedelt ohne Rücksicht auf die Fähigkeiten der anderen, ohne Ahnung von der Lawinengefahr.
Typische Gruppendynamik. Studien zeigen, dass Menschen im Verband größere Risiken eingehen als allein, weil sie sich dann stärker und unverletzlicher fühlen. Das passiert bei der Teambesprechung im Unternehmen oder wenn der Kegelklub auf Tour in einer fremden Stadt ist. Die Verantwortung für Entscheidungen wird in aller Bequemlichkeit einem eloquenten
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