Mut Proben
vor.
Eva: Ja, wirklich. Seit ich die Feige gegessen habe.
Inquisitor (brüllt): Wegen dir müssen wir hier foltern, muss die ganze Menschheit schuften von früh bis spät im Schweiße ihres Angesichts. – Wegen dir haben wir alles verloren.
Eva: Na ja.
Inquisitor: Ewige Verdammnis. War dir nicht klar, was du aufs Spiel setztest?
Eva: Es war ein Risiko, zugegeben.
Inquisitor: Alles futsch – das ewige Leben, Friede, Harmonie. Hättest du dich ein bisschen mehr zusammengerissen, gäbe es heute keine Sorgen, keine Mühen, keine Feinde, keine Ketzer.
Eva: Ach, und das würde Ihnen gefallen?
Inquisitor: Das Himmelreich, es muss so herrlich sein.
Eva: Es ist langweilig.
Inquisitor: Wie bitte?
Eva: War nicht so dolle. Wirklich.
Inquisitor: Du Undankbare.
Eva: Es war, wie Sie sagen – friedlich, ruhig, kein Stress. Sprich: auf ewig keine Arbeit, nie was zu tun, rumgammeln, immer nur fressen, null Perspektive. Ich verstehe nicht, wie ihr das so idealisieren könnt.
Inquisitor: Und Adam? Ich meine, ihr zwei konntet doch … den ganzen lieben langen Tag …
Eva: Da war nichts.
Inquisitor: Du verruchte Hure!
Eva: Also das können Sie mir nun wirklich nicht anhängen. Da war nur Adam. Und selbst der, na ja, wir hatten keine Ahnung – und auch keine Lust.
Inquisitor: Sprichst du auch die Wahrheit?
Eva: Natürlich, die Augen gingen uns doch erst auf, als wir die Feigen probierten. Da haben wir uns zum ersten Mal richtig angesehen – und plötzlich sah ich Adams Muskeln und sein Ding …
Inquisitor: … ja, ja, schon gut. Zur Strafe musst du nun »mit Schmerzen deine Kinder gebären«. Das hast du wohl verdient.
Eva: Das ist tatsächlich nicht so prickelnd. Aber den anderen Fluch lass ich mir gern gefallen: das »Verlangen nach dem Manne«. Schöne Sache. Ist ein bisschen wie verbotene Feigen naschen.
Inquisitor: Siehst du da einen Zusammenhang?
Eva: Schon, ja, man weiß ja nicht, wie der andere so ist, was für Vorlieben der hat, Geschlechtskrankheiten und so. Ist schon auch ein Wagnis. Und dann die Kinder. Tut erst mal weh, und dann: Wie werden die sich entwickeln? Weiß man ja nicht, ist völlig ungewiss. Wenn ich an Kain denke … ach Gott, der arme Abel.
Inquisitor: Schlimme Sache das, in der Tat. Du würdest also sagen, Eva, Leid und Freud liegen dicht beieinander?
Eva: So könnte man es ausdrücken.
Inquisitor: Eva, ich bin sicher, die Leute hier im Keller, und auch die Kollegen an den Verhörinstrumenten, die würden wahnsinnig gerne von dir hören … Also wenn du jetzt mal abschließend bewerten magst: Paradies versus verfluchtes Leben, du kennst ja schließlich beides. Damals unter dem Feigenbaum, als du dieses ungeheure Risiko eingegangen bist, rückblickend betrachtet: War es das wert?
Eva: Ganz sicher, ja. Ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen, aber ich wusste, dass ich das Richtige mache – dieses Prickeln, es fühlte sich einfach nur gut an. Adam war da ja etwas zögerlicher, aber inzwischen ist auch er begeistert. Er ist jetzt viel leidenschaftlicher. Wir hatten dieses eintönige Leben in ewiger Dummheit so satt.
Inquisitor: Und heute? Wie ist das Leben heute?
Eva: Eindeutig spannender, erfüllter. Ich bin froh, dass ich endlich Arbeit habe. Ich weine dem Paradies keine Träne nach.
(Donnernder Applaus im Gewölbe, Gefangene und Folterer fallen sich in die Arme, Schlüssel drehen sich in Schlössern, Ketten rasseln zu Boden.)
Inquisitor (mit Tränen in den Augen): Danke, Eva. Ich glaube, wir haben heute etwas ganz Neues und Wichtiges erfahren.
1 »Die Bibel«, nach der Übersetzung von Martin Luther.
Lexikon der Ungewissheit
Mit bemerkenswerter Kühnheit wirft die erste Frau der Welt ihrem Gegenüber Worte an den Latz, bei denen wir uns heute im 21. Jahrhundert nicht immer einig sind, was sie bedeuten: Wagnis, Mut, Risiko. Ist das etwas Gutes oder Schlechtes? Sollen wir es bewundern oder scheuen? Ich möchte diese Begriffe klären, damit wir uns gut verstehen.
Ein Risiko ist zunächst mal nichts Gutes und nichts Schlechtes, bloß eine Ungewissheit. Die kann sich allerdings bedeutend auf unser Leben auswirken – als Gewinn oder als Schaden.
Eine Herausforderung ist ein Risiko, das wir eingehen. Wir fühlen uns praktisch aufgefordert, uns einer Ungewissheit zu nähern, uns mit ihr auseinanderzusetzen – mit möglichst positivem Ergebnis. So stellt Wandern in den Bergen grundsätzlich ein Risiko dar – zu einer Herausforderung wird es, sobald wir selbst
Weitere Kostenlose Bücher