Mut Proben
ist der Moment, an den er noch lange zurückdenken wird.
In seinem Inneren formt sich eine Frage. Für einen Moment vergisst er, wo er ist und warum, er weiß nur, diese Frage ist wahnsinnig wichtig …
»Fertig machen zum Absprung«!, ruft der Trainer, und als Trimpop sich zur Tür tastet, denkt er: »Was um Himmels willen haben der Richter und das Mädchen hier verloren?« 16
Die beiden passen nicht ins Klischee der Menschen, die Gefahren suchen. Sie wirken nicht wie testosterongeputschte Abenteurer, die das Risiko lieben. Die von Klippen springen, mit Haien tauchen, durch Krisengebiete trampen oder, die Finger zum Siegeszeichen gespreizt, lächelnd aus einem Flugzeug hüpfen.
Trimpop selbst hat sich nie für einen Draufgänger gehalten, aber ein gewisses Quantum Gefahr mochte er schon immer. Er wuchs auf dem Dorf auf. Kletterte auf Bäume, jedes Mal ein Stückchen höher, hat sich mit den Nachbarjungen geprügelt. Sie wussten, wie sich eine Faust in der Magengrube anfühlt, und sie wussten, dass man nicht zutritt, wenn einer am Boden liegt. Als Zwölf- und Dreizehnjährige donnerten sie in Autos und auf Motorrädern über die Kuhweide. Mit Luftgewehren schossen sie auf ihre Lederhosen, weil sie wissen wollten, wann es wehtut. Sie zielten mit Wurfpfeilen auf einen Baum, wobei sie sich bemühten, den Freiwilligen, der dort stand, nicht zu treffen. Als jemand die Mutprobe verschärfen wollte und Messer und Äxte anschleppte, hatten sie das unbestimmte Gefühl, dass das zu weit gehen könnte.
Das ist erst gut zehn Jahre her, eine ungestüme Jugend im westlichen Deutschland. Jetzt steht Trimpop anderthalb Kilometer darüber an einer offenen Luke, am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Der Wind zerrt am Overall, sein wummerndes Herz pumpt einen brisanten Hormoncocktail durch die Adern. Unter ihm nur Luft. Er konzentriert sich, denkt an die Worte des Trainers: Arme und Beine ausbreiten, um nicht wie ein Stein zu fallen. Versucht auszublenden, was Angst machen könnte, unangenehme Fragen wie: Warum sollte das Stück Textil genau im richtigen Moment aus dem Rucksack flutschen und sich korrekt entfalten? Mit glasigen Augen blickt er nach unten. Dann knickt er ein.
Der Fahrtwind trifft ihn wie eine Wand. Blanke Angst, dann geht ein Strahl durch seinen Bauchraum. Ein wonniges Gefühl, das jede Nervenzelle kitzelt. Nie zuvor hat er das so intensiv gespürt, es macht ihn schier verrückt: der Rausch des freien Falls. Nach zwei, drei Sekunden entfaltet sich der Schirm, bremst ihn. Mit einem Mal herrscht Stille. Trimpop baumelt an den Strippen, lächelt. Alles ist ruhig, friedlich, er spürt Glück. Weil das Ding aufgegangen ist. Weil er mutig ist. Und weil er das Gefühl hat, einer aufregenden Zukunft entgegenzuschweben: Diese Frage – er weiß, sie ist schwer zu beantworten, aber er spürt, sie birgt Explosives, könnte einzementierte Meinungen sprengen. Trimpop beschließt an diesem Tag zu erkunden, warum harmlos wirkende Menschen wie der Richter und das Mädchen ihr Leben aufs Spiel setzen. Und wie viele es von ihrer Sorte gibt.
Damals begann Trimpop, eines der großen Rätsel der Menschheit zu knacken: Warum tun wir Dinge, die uns gefährden? Warum lässt die Evolution Wesen zu, die mit zweihundert Stundenkilometern über die Autobahn rasen, ohne Not mit einem Seil an den Füßen von einer Brücke hopsen oder einen Teller geröstete Heuschrecken probieren; die senkrechte Felswände erklimmen oder sich wildfremden Menschen für eine Nacht vorbehaltlos hingeben?
Heute, inzwischen Professor für Psychologie an der Universität Jena, kennt Trimpop die Antwort: »Es ist ein Trieb. Jeder Mensch geht Risiken ein, egal wie ängstlich oder mutig er scheint. Wir tun das, um unsere Überlebenschancen und unser Wohlbefinden zu erhöhen.«
Verblüffend. Eigentlich sind wir die meiste Zeit damit beschäftigt, unser Leben sicherer zu gestalten. Wir stellen uns mit dem Chef gut, um weiterhin für ihn arbeiten zu dürfen, legen Sicherheitsgurte an und für die Ausbildung der Kinder Geld zurück, tragen Fahrradhelme, meiden Gammelfleisch und schließen Reiserücktrittsversicherungen ab.
Wie sorgen Sie fürs Alter vor? Haben Sie Angst, später klamm zu sein? Den Nachwuchs anschnorren zu müssen, weil die Rente nicht reicht? Oder in einer staatlichen Seniorensammelstelle im Fünfbettzimmer dahinzusiechen? Mir kommen solche Fantasien zuweilen. Und darum erscheint es mir seltsam, dass es unser tiefes Bedürfnis sein soll, unberechenbare
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