Mutterschuldgefuehl
würden. Ich habe durchaus Verständnis für sie, weil sie dem Apparat Gesundheitssystem genauso ausgeliefert sind wie wir jetzt. Ich verstehe nur nicht, wie wir uns überhaupt auf diese ganze Sache hier einlassen konnten. Die drei Nieren waren harmlos im Vergleich zu dem, was uns jetzt erwartet.
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»Ihr Kind hat eine Zyste im Hirn«, teilt uns die Spezialistin direkt nach der Untersuchung mit.
»Aber das ist aller Wahrscheinlichkeit kein Anlass zur Sorge. So etwas wächst sich häufig wieder aus.« Sie lächelt müde.
Gleich darauf werden wir in einen verdunkelten Raum geschleust. Wir müssen uns neue Berechnungen über die nun erhöhte Wahrscheinlichkeit eines Downsyndroms ansehen, auf Leinwand, per Beamer. Da sitzen wir im Dunkeln und starren auf die Ziffern.
Die Sorge um die Gesundheit des Kindes sitzt uns beiden fortan monatelang wie eine kalte Hand im Nacken. Entspannung und Wohlbefinden, die als wesentliche Voraussetzung für die Gesundheit von werdender Mutter und Kind gelten, muss ich mir schwer erkämpfen. Noch nie habe ich so häufig meditiert. Ich traue mich erst, mir die Zukunft mit meinem Kind weiter vorzustellen, als ich Wochen später bei einem zweiten Termin erfahre, dass das Kind vollkommen gesund ist.
Von meinem anfänglichen Optimismus, das Kind schon schaukeln zu können, ist nicht mehr viel übrig. Ich fühle mich einem riesigen medizinischen Apparat ausgeliefert,
der mir Angst macht und in dem meine Meinung und meine Intuition keine Rolle spielen. Risiko und Gefahr schweben dauernd unausgesprochen im Raum und die vielen Kontrollen sind kraftraubend und ermüdend.
Kein Vergleich zu früher: Normen und Kontrollinstanzen
Und ganz allmählich, peu à peu, werde ich wie viele andere werdende Mütter ein groÃer Fan von Normen. Normen bieten Sicherheit und Schutz. Normen sind das Normale, das Unauffällige. War ich in einem früheren Leben der Meinung, dass gerade die Unterschiedlichkeit den Reiz von Menschen ausmacht, hoffe ich jetzt nur noch auf ein normgerechtes Wesen.
»Bitte, lass mein Kind normal sein«, bete ich. »Lass es nicht so sein, dass sie nicht wissen, was es ist.«
Ja, schlimmer noch, mit der Zeit bekomme ich das Gefühl, für die Mutterschaft nicht geeignet zu sein. Wenn ich jetzt schon schlappmache, denke ich beklommen, wie soll es erst werden, wenn ich es Tag für Tag in dieser Gesellschaft beschützen soll, in dieser Welt, in der reale Gefahren drohen und Abweichler argwöhnisch betrachtet werden? Was soll werden, wenn es aneckt, missfällt, auffällt? Ich habe oft Angst und bin unsicher. Dabei verläuft meine Schwangerschaft an sich völlig komplikationslos. Das Kind gedeiht prächtig.
Wie anders erging es doch unseren Müttern. Die meisten waren in der Schwangerschaft sehr viel unbeschwerter und zuversichtlicher, als wir es heute sind. Natürlich hatten auch sie Angst, kein gesundes Kind zu bekommen, aber die Entscheidung darüber lag nicht bei ihnen. Sie haben sich lange nicht so viele Gedanken über Behinderungen gemacht wie wir heute, denn in den 60er- und bis Mitte der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts mussten sie sich noch nicht mit pränataler Diagnostik beschäftigen. Die Krankenkassen übernahmen 1976 zum ersten Mal die Kosten für eine Fruchtwasseruntersuchung und es waren in Deutschland im Jahr nicht einmal 2.000 Punktionen. Heute sind es rund 80.000.
Unsere Mütter gingen in der Regel drei Mal in der Schwangerschaft zum Arzt, vertrauten meist auf ihr Gefühl für das Kind, lieÃen sich zur Geburt einweisen und vom Geschlecht des Babys überraschen. Für Beschaffenheit und Gesundheitszustand ihres Kindes wurden sie nicht verantwortlich gemacht.
Diese Zeiten sind heute offenbar vorbei.
Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, aber mit der guten Hoffnung ist es nicht mehr weit her. Zahllose schwangere Frauen warten sehnlichst auf den nächsten Ultraschalltermin oder auf Testergebnisse, weil sie wissen wollen, ob mit ihrem Kind alles in Ordnung ist. Wenn Technik das eigene Gespür ersetzt, wird sie zur alles beherrschenden Kontrollinstanz. Wir streben nach den neuesten medizinischen Errungenschaften. Wir verlassen uns auf sie, weil wir die gröÃtmögliche Sicherheit suchen. Der Preis allerdings ist häufig hoch. Wir spüren oft Angst und Druck und lernen allmählich, dass nicht wir, sondern Experten am besten wissen,
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