Nach Santiago - wohin sonst
wirkt dreckig, verwahrlost, jedes Dorf stinkt nicht nur erbärmlich nach Silofutter und Mist — wobei der anscheinend nie weggeräumt wird — , es wimmelt auch von wilden Mülldeponien, wo sogar Sperr- und Sondermüll fröhlich die Landschaft verunzieren: Autowracks, leere Öl- und Benzinkanister, leere Behälter für Spritz-, Dünge- und Insektenvertilgungsmittel — die reine Chemiebombe! Eigentlich grausig. Die Armut kann es nicht sein, ich sah auch relativ viele neue Autos und auch Häuser.
Was ich hier sah, beobachtet man häufig in Regionen, in denen der Fortschritt, der Reichtum, mit dem Füllhorn ausgegossen wird, sozusagen von oben kommt (Europäische Gemeinschaft!) und nicht Ergebnis eines organischen, langsamen Wachsens von unten ist — und deshalb nur halb verdaut wird. Der Rest wird in die Dörfer und Felder gespien und geschissen, sprichwörtlich!
Ich kam durch Sarria, Verkehrsknotenpunkt und Marktzentrum seit über 2000 Jahren, heute wahrscheinlich der Ort, von dem aus die meisten ihre Pilgerfahrt nach Santiago beginnen, weil es von Sarria knapp über 100 Kilometer bis Santiago sind, was ausreicht, um die „Compostela“ zu erwerben. Beim Gedanken daran, daß Menschen hier aufbrechen, während ich schon 1500 Kilometer hinter mir habe, konnte ich mich eines — unchristlichen — Gefühls des Stolzes und der Überheblichkeit nicht erwehren. Aber kein Pilger bekam es je zu spüren, denn den ganzen Tag über war ich keinem einzigen begegnet, das erste Mal seit Tagen.
In Ferreiros hatte ich ein schönes neues Refugio für mich alleine — heißes Wasser zum Duschen, einen Herd zum Kochen, einen geheizten Schlafsaal und einen Aufenthaltsraum. Es fehlte nur das Glas Whisky und das prasselnde Feuer am offenen Kamin, um die romantische und heimelige Stimmung zu vervollständigen.
In Galizien ist der Jakobsweg wirklich eine Institution — und wahrscheinlich auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Dementsprechend investiert die Xunta (Regierung) der autonomen Region Galizien auch in die Pilgerinfrastruktur.
Bei strömendem Regen und auf trotz des Regens traumhaft schönen Wegen erreichte ich Portomarín, das versunkene Städtchen, das in den sechziger Jahren einem Stausee zum Opfer gefallen war. Die romanische Kirchenburg des mächtigen Ritterordens der Johanniter wurde Stein für Stein abgetragen und 50 Meter höher im Trockenen wieder aufgebaut. Nur bei Wassertiefstand taucht der Steinbogen der Miño-Brücke (12. Jahrhundert) aus dem Wasser auf.
In Palas do Rei begegnete ich wieder „alten“ Freunden, den drei jungen Radpilgern, die sich also doch wiedergefunden hatten. Ich mußte an die Geschichte vom Hasen und vom Igel denken, als ich sie traf — ein Fußgänger, genauso schnell wie ein Mountainbiker! Das entsetzliche Wetter machte ihnen sehr zu schaffen, viel mehr als mir, immer wieder mußten sie haltmachen, unterschlüpfen, sich aufwärmen. So saßen sie auch gerade in einem Restaurant mit einem Teller heißer Gemüsesuppe am offenen Kamin, als sie mich vorübergehen sahen und einer mir nachlief, um mich ins Warme zu holen.
Im Refugio von Melide feierte ich mit João, einem meiner drei Brasilianer, wiedersehen — und den 76. Geburtstag meines Vaters. João hatte seit Logroño nichts mehr von Eugenia und Alex gehört, die sich ja für Mountainbikes und den eher touristischen Aspekt des Jakobsweges entschieden hatten. Er war tapfer alleine weiter zu Fuß gegangen, in den letzten Tagen aber langsamer als gewohnt, da er sich dem Tempo einer Gruppe von drei hübschen Baskinnen angepaßt hatte. Er hat sich nämlich in Ana verliebt, wodurch die Prioritäten gewaltig verschoben wurden.
In Melide traf ich außerdem eine belgische Schulklasse, die in Begleitung ihres Lehrers Yves eine einwöchige Pilgerfahrt für den Frieden machte — toll! Mit ihnen vier Schüler, die gläubige Moslems sind. Sie erklärten mir, daß der Apostel Jakobus in ihrer Religion — wie übrigens alle zwölf Apostel — als Prophet verehrt werde, und sie überhaupt kein Problem damit hätten, zum Grab eines christlichen Heiligen zu pilgern. Ich war beeindruckt von diesem faszinierenden Projekt und verbrachte einen unvergeßlichen Abend, bereichert und animiert durch anregenden Weinkonsum und angeregte Gespräche mit Yves, seinem Begleiter Eric, einem bekennenden Atheisten, João und den drei Baskinnen.
Der heutige — letzte! — Tag meiner Pilgerfahrt war eine einzige, die letzte große Prüfung vor dem Ziel:
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