Nach Santiago - wohin sonst
individuellen Glücksfindung darstellen. Eine Deutung, die zwar ganz dem Zeitgeist entspricht und sich auch entsprechend gut verkauft — Kommerz und Esoterik führen eine äußerst harmonische Ehe! — , die meiner Ansicht nach aber nicht nur falsch, sondern auch gefährlich ist. Gefährlich, weil sie erstens falsche und unerfüllbare Erwartungen in die Pilgerreise weckt und zweitens durch das Leugnen (oder Verschweigen) der sozialen Dimension des Menschen und damit auch des Pilgerns einen gesellschaftlichen Trend unterstützt, den ich für zerstörerisch halte.
Mein Dank geht an meine Eltern Ilse und Ferdinand, die mich gelehrt haben, das Leben aufrecht gehend zu bewältigen, und an alle Menschen auf meinem Pilgerweg, die mir ihre Gastfreundschaft und Hilfe geschenkt haben. Insbesondere Peggy und Miguel in Spanien, Francine und Jean, Elisabeth und Thierry in Frankreich und Heidi und Herwig in Österreich.
1. Kapitel
Traumstart
Die Begegnung
Eigentlich hat mein Jakobsweg schon im Oktober 1992 begonnen. Ich befand mich auf dem Weg zu Freunden in Spanien und überquerte die Pyrenäen über den Cisa-Paß. Wenige Kilometer danach kam ich nach Roncesvalles (Roncevaux im Französischen), jenen Ort, der durch die Rolandssage berühmt geworden ist. Dort soll Roland, der treue Vasall Kaiser Karls des Großen, mit der Nachhut, die den Rückzug des kaiserlichen Heeres decken sollte, in einen Hinterhalt der Sarazenen geraten und mit allen Soldaten (man spricht von 40.000!) gefallen sein. Heute neigt man eher zur Ansicht, daß es die Basken waren, die sich für die Zerstörung Pamplonas rächen wollten.
Natürlich besichtigte ich das Rolandsdenkmal, aber viel mehr fesselte mich ein uralter Kilometerstein am Straßenrand, der besagte: „Santiago de Compostela, 728 km“. Von irgendwoher, aus der Schule, aus dem Religionsunterricht, ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, hatte ich eine entfernte Ahnung, was es mit Santiago de Compostela auf sich hatte. Bisher assoziierte ich diese berühmte Pilgerstätte jedoch ausschließlich mit dem Mittelalter. Etwas aus einer längst vergangenen Zeit. Aber als ich auf dem Weg nach Pamplona diese Kilometersteine immer wieder sah und einmal sogar zwei Pilger überholte, die am Straßenrand, mit Rucksack, Stock und Hut, unterwegs waren, wurde mir bewußt, daß der Jakobsweg heute noch begangen wird, lebt, eine Bedeutung hat. Von dem Moment an war es um mich geschehen.
Nachdem ich schon seit Jahren geplant hatte, einmal mindestens zwei Monate lang nur zu gehen, das Gehen sozusagen als Lebensform zu praktizieren — ich hatte dabei an einen der großen europäischen Fernwanderwege gedacht — war es nur ein winziger Schritt zur Entscheidung, dieses Projekt als Pilger auf dem Jakobsweg zu realisieren. Niemand hatte mir vorher vom Jakobsweg erzählt, es war kein langgehegter Traum von mir, ihn einmal zu begehen. Wir „begegneten“ uns einfach in Roncesvalles, das genügte. Die Tatsache, daß die „Via Tolosana“, der südlichste der vier französischen Wege, der in Arles in der Camargue seinen Anfang nimmt und über Montpellier, Castres, Toulouse — daher der Name Auch und Pau über den Col du Somport nach Aragon führt, ausgerechnet auch durch St. Jean de la Blaquière im Languedoc verläuft, jenen kleinen Ort, in dem ein Teil meines Herzens seit über 20 Jahren fest verankert ist, konnte mich gar nicht mehr überraschen. Irgendwie paßte alles zusammen. Also beschloß ich, als krönenden Abschluß meines Sabbatjahres, das ich ab März 1994 eben in St. Jean zu verbringen gedachte, die 1600 Kilometer, die Arles von Santiago trennen, zu Fuß zurückzulegen.
Mittwoch, 22. Feber
Letzte Vorbereitungen
Vor mir auf dem Boden der Küche liegt alles, was ich für die Pilgerreise brauchen werde. Jedenfalls glaube ich das. Und das alles soll im Rucksack und in Ajiz’ (gesprochen Achiss) Satteltaschen Platz haben? Ajiz ist mein Hund, ein Karelischer Bärenhund. Er wird mich begleiten und freut sich schon riesig auf die zwei Monate Gehen, Gehen und nochmals Gehen.
Weil ich sowohl mit Kälte — es ist schließlich noch Winter, ich werde mehrmals auf über 1000 Meter Seehöhe und in den Pyrenäen sogar auf über 1600 Meter gelangen — als auch mit Hitze rechnen muß — im April kann es auf der Meseta von Kastilien schon ganz schön heiß werden — , ist einiges an Gepäck zusammengekommen: Pullover, wasserabweisende Jacke, Schlafsack, Biwaksack, Biwakzelt — vor allem in Frankreich
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