Emmas Geheimnis: Roman (German Edition)
1.
Es war einer dieser Tage, an denen die Luft so warm ist, dass man glaubt, sie anfassen zu können. Sie streicht wie Seide über die Haut und umschließt den ganzen Körper. An einem dieser Tage, an denen sich der Himmel unendlich blau über dem Meer spannt, saß ich auf der Mauer, die den Friedhof der St. Multose Church umgab. Ich hatte die Augen geschlossen, um nicht mehr zu weinen. Um mich herum die Musik der kleinen Stadt: Stimmen, Motoren, Möwen, in der Ferne das Meer. Aber dass ich das Meer so deutlich hörte, konnte nur Einbildung sein. Ich stellte es mir vor, weil es mich vom Weinen ablenkte. Und während ich mich darauf konzentrierte, fragte jemand: »Bist du okay?«
Die Stimme fügte sich so selbstverständlich in die Klänge der Umgebung ein, dass ich nicht erschrak. Ich brauchte sogar einen Moment, bis ich merkte, dass ich gemeint war.
Als ich mich umdrehte, sah ich in ein schönes Gesicht mit großen grünen Augen. Er war ungefähr in meinem Alter, lächelte vorsichtig, schob sich seine etwas zu langen dunklen Locken aus der Stirn. »Sorry, ich wollte nicht stören, aber ich dachte …«
»Alles in Ordnung«, sagte ich.
»Sicher? Ich meine, weil du …«
»Danke fürs Nachfragen«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich komm schon klar.« Er sollte einfach nur gehen, aber er blieb stehen. In beiden Händen trug er volle Einkaufstüten.
»Ist jemand …«, begann er.
»Meine Großmutter«, sagte ich.
»Mein Beileid.« Sein Blick wanderte von mir zur Kirche. »War heute …«
»Ja«, sagte ich schnell. »Heute.« Ich atmete tief ein, um nicht wieder loszuheulen.
»Das tut mir leid«, sagte er. »Wirklich. Ich dachte nur, vielleicht …« Er zögerte, sah sich um, blinzelte gegen die Nachmittagssonne. »Wo sind die anderen? Deine Familie? Freunde?«
»Vorgegangen.« Ich biss mir auf die Unterlippe.
»Verstehe.«
Es klang, als ob er wirklich verstand. Dass ich noch nicht zurück ins Haus meiner Großmutter gehen konnte. Dass ich noch Zeit für mich allein brauchte. Er setzte sich einfach neben mich auf die Mauer und stellte seine Tüten ab.
»Erzähl mir von ihr. Wie hieß sie?«
»Margaret.«
»Wie alt ist sie geworden?«
»Siebzig.«
Er nickte stumm.
»Margaret war immer … Sie wirkte immer irgendwie heiter, auf eine ruhige Art. Ausgeglichen. Und sie war immer in Bewegung. Sie lebte auch gesund. Niemand hat damit gerechnet, dass sie einfach so einen Herzinfarkt bekommt.«
»Also ganz plötzlich und unerwartet«, sagte er.
»Ich konnte mich nicht mal verabschieden. Als ich sie zuletzt gesehen habe, war sie wie immer. Und vier Tage später …« Ich schluckte. »Sie hat mich großgezogen.«
»Was ist mit deinen Eltern? Waren sie viel unterwegs?«
»Meine Mutter ist gestorben, als ich zwölf war. Und meinen Vater habe ich nie kennengelernt.« Ich sah hinüber zur Kirche. Die St Multose Church war anglikanisch und gehörte zur Church of Ireland. Die Größe des Gebäudes täuschte: Nicht mal zum Weihnachtsgottesdienst waren alle Plätze gefüllt. Die meisten Iren waren katholisch. Das galt auch für das County Cork. Meine Familie war die Ausnahme gewesen. »Protestantisch und dazu noch ein uneheliches Kind … So bin ich in Cork aufgewachsen. Mutter dachte wohl, dass sie es in einer Großstadt leichter haben würde.«
»Hatte sie es dort leichter?«
Ich hob die Schultern. »Ich war noch so jung.«
»Und dann bist du mit zwölf wieder nach Kinsale gekommen?«
»Ja, ich zog zu meiner Großmutter. Es war okay, weil ich immer die Ferien bei ihr verbracht und sie oft besucht hatte. Nach der Schule auszuziehen, um in Cork zu studieren, ist mir wirklich schwergefallen.« Ich lachte leise. »Am Anfang bin ich jedes Wochenende nach Hause gefahren. Habe ich nach Hause gesagt? Also, zu ihr.« Warum sprach ich so lange mit ihm? Warum erzählte ich ihm das alles? Es waren so persönliche, fast schon intime Dinge, und doch erschien es mir ganz natürlich, mit ihm darüber zu reden. Er stellte die richtigen Fragen. Ich verstand, dass es genau das war, worüber ich in diesem Moment reden wollte. Ich war ihm dankbar dafür, wie aufmerksam er mir zuhörte.
»Nach Hause«, wiederholte er. »Das klingt aber doch richtig. Oder etwa nicht?«
Ich dachte nach. »Dann habe ich heute mein Zuhause verloren.« Ich bedauerte, dass Margaret und ich unser letztes Beisammensein mit Gesprächen über Nichtigkeiten verschwendet hatten, und wünschte nichts mehr, als die Zeit zurückdrehen zu können. Auch das erzählte
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