Nachkriegskinder
eine Anstellung bekamen, weil Juden aus Ämtern und Universitäten gejagt worden waren. Ich übersah auch die kleinen Angestellten, die nun eine Position höher aufsteigen konnten, weil weiter oben ein Jude die Arbeit verloren hatte.
Wie oft habe ich in den vergangenen Jahren gehört: »In meiner Familie gab es keine Nazis. Es waren kleine Leute.« Doch es waren ja gerade die kleinen Leute, die auf Schnäppchenjagd gingen, wenn Hausrat aus »nichtarischem Besitz«, worauf in Zeitungsanzeigen ausdrücklich hingewiesen wurde, ersteigert werden konnte. Die Inventarlisten stammten von den jüdischen Mitbürgern selbst – sie mussten sie vor ihrer Deportation anfertigen und zusammen mit dem Wohnungsschlüssel abgeben.
Sobald jüdische Nachbarn zur Deportation abgeholt worden waren, witterten einige Bewohner des Viertels fette Beute. Sie bewarben sich so schnell wie möglich um die nun verlassene Wohnung, möglichst mit dem gesamten Mobiliar. Das Rennen machten |294| diejenigen, die gute Beziehungen zu örtlichen Nazis hatten. Andere freuten sich, wenn sie billig eine Bratpfanne, ein Bücherregal, eine Daunendecke erwerben konnten. Ich will hier kein Urteil aussprechen. Es ist leicht, ein gutes Gewissen zu behalten, wenn man in guten Verhältnissen lebt. Die Armut damals war groß, und Gelegenheit macht bekanntlich Diebe. Und diese Menschen waren nicht einmal Diebe, sondern Käufer. Der Vorgang war legal. Sie bekamen eine Quittung.
Alle hatten profitiert
Nie habe ich früher irgendjemanden von diesen vielen kleinen günstigen Gelegenheitskäufen reden hören. Ich denke dabei nicht an ein Geständnis, sondern dass mir dies zugetragen worden wäre als üble Nachrede. Wie oft habe ich mir anhören müssen, diese oder jene Nachbarin sei ein »Ami-Liebchen« gewesen oder habe sich auf andere Weise prostituiert. Ich wusste von Betrügereien in der engen Verwandtschaft, von einem Onkel, der angeblich homosexuell war, er wurde als Verbrecher hingestellt. Doch nie hörte ich jemanden sagen: »Ich war entsetzt, wie rechtschaffene Leute plötzlich so habgierig sein konnten. Ich selbst hätte das nicht gekonnt. Ich habe doch gesehen, wie furchtbar die Juden behandelt wurden.« Nichts davon. Kein Klatsch über Nachbarn, die noch immer in einem Ehebett schliefen, das aus jüdischem Besitz stammte. Kein Hinweis auf eine Perlenkette, die in Wahrheit gar kein Familienschmuck war, sondern für »einen Appel und Ei« in den Familienbesitz gelangte, nachdem der jüdische Kinderarzt und seine Frau abgeholt worden waren. Offenbar konnte man mit Anschuldigungen dieser Art niemanden in Misskredit bringen, denn das korrumpierte Rechtsempfinden betraf alle – und alle hatten davon profitiert.
Nie hätte ich mir vorstellen können, dass die meisten dieser Verkäufe säuberlich quittiert wurden, und dass Millionen dieser Akten mit Namen der Käufer existieren, nur, dass über viele Jahrzehnte |295| so gut wie niemand davon wusste, weil die Finanzbehörden darüber Stillschweigen bewahrten. Und noch etwas: Nie habe ich gehört, dass eine Familie den Fünf-Kilo-Schinken, den Vater bei seinem Heimaturlaub mitbrachte, nicht anrührte, mit der Begründung, der sei doch sicher einem russischen Bauern weggenommen worden und man wisse doch inzwischen, wie furchtbar schlecht es der Bevölkerung dort gehe.
Man könnte noch vieles anführen, was damals üblich war und aus heutiger Sicht unerträglich erscheint, zum Beispiel das Kapitel Zwangsarbeiter. Es gab also nach dem Krieg in jeder Familie gute Gründe, schlechtes Gewissen abzuwehren. Dafür haben nicht nur unsere Väter gesorgt, sondern auch unsere Mütter und die Großeltern. So entstand Schweigen, so entstand Nebel. Jetzt löst er sich langsam auf.
Besser war’s nicht. Besser ging’s nicht
Von der Generation der Kriegserwachsenen leben nur noch wenige Menschen. Das macht es in den Familien leichter, die Vergangenheit ungeschönt zur Sprache zu bringen. Die Nebel lösen sich aber auch deshalb auf, weil die Empörung über die Väter – »Wie konnten sie das tun!« – weitgehend abgeklungen ist. Aus vielen der ehemals verwirrten, enttäuschten, wütenden Töchter und Söhne sind reflektierte Menschen geworden, die auf den Ruhestand zugehen, weshalb sich nicht wenige auf eine Lebensbilanz einlassen. Zunehmend merken sie: Es reicht nicht, die deutsche Vergangenheit zu kennen und anzunehmen. Die persönliche Vergangenheit realistisch zu bewerten ist genauso wichtig, wie auch diejenigen Menschen
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