Nachkriegskinder
Unbeschreibbaren zu stellen. Zu den wenigen Ausnahmen zählte der Schriftsteller Heinrich Böll – er wurde von der jüngeren Generation dafür verehrt und geliebt. Aber Fakt ist auch: Die Bedingungen für das eigene Leben hätten sehr viel schlechter sein können. Um das zu erkennen, ist der Blick auf die ehemalige DDR ein hilfreicher. Das Nachkriegselend dauerte im Osten weit länger als im Westen. Wer wusste das besser als wir Kinder, die diesseits des Eisernen Vorhangs aufwuchsen und der Mutter halfen, die regelmäßig Pakete und Päckchen »nach drüben« schickte. Dort gab es keine demokratischen Verhältnisse, kein Wirtschaftswunder, keinen Schüleraustausch mit den USA. Das erfuhr man als Kind des Westens schon lange bevor die Mauer fiel. Die deutsch-französische Freundschaft brachte vermutlich mehr Annehmlichkeiten mit sich als die deutsch-sowjetische Freundschaft. Aber auch in der DDR gab es rebellierende oder doch zumindest sich verweigernde Jugendliche. Aus der Reihe zu tanzen erforderte bekanntlich viel Mut, es konnte Verhöre durch die Stasi und drastische Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Dagegen verblüffte mich, als ich nach der Wende von Gleichaltrigen erfuhr, sie hätten sich nicht geschämt, deutsch zu sein, sie hätten sich wegen der NS-Verbrechen nicht schuldig gefühlt, denn der offiziellen Propaganda zufolge habe man sich als |31| Erben des antifaschistischen Widerstandes gesehen. Um es noch deutlicher zu machen, griff die ehemalige DDR-Bürgerin und Bundesbeauftragte für Stasiunterlagen, Marianne Birthler, zu leiser Ironie. »Hitler war ja, wie Peter Bender es auf den Punkt brachte, Westdeutscher. Wir waren erklärtermaßen der antifaschistische Staat, und es gab auch offizielles und öffentliches Gedenken, aber wir haben über andere geredet, nicht über uns. Denn die Verbrecher – ich sag’s jetzt etwas verkürzt –, die waren alle im Westen.« 1
Milder Blick auf die Eltern
Wie nicht anders zu erwarten, ist der Blick der Nachkriegskinder auf die Eltern, die häufig schon tot sind, milder geworden. Man zeigt Verständnis für deren Entsetzen über lange Haare, kurze Röcke, laute Musik und Knutschen in der Öffentlichkeit. Keine Frage, man hat den kaum vom Krieg erholten Erwachsenen viel zugemutet. Aber bereut wird es nicht. Die Zeit war überreif, darum war die Veränderung so radikal, nur noch übertroffen von dem, was den ehemaligen DDR-Bürgern nach dem Mauerfall widerfuhr.
Für einige Nachkriegskinder des Westens scheint die Aufbruchsstimmung, als sie jung waren, das Einzige zu sein, was sich zu erinnern lohnt. Die bleierne Zeit der fünfziger Jahre und die Enge des Elternhauses verschwinden dahinter. Eine Freundin von mir ist sogar überzeugt: »Wir sind die goldene Generation.« Das können die Baby-Boomer von sich nicht behaupten, was wieder einmal zeigt, dass nur wenige Jahre Altersunterschied in der Gruppe der Nachkriegskinder große Unterschiede im Lebensgefühl erzeugen konnten.
Die meisten biografischen Geschichten haben einen melancholischen Unterton. Menschen, die in der Nachkriegszeit aufwuchsen, werden in den hier veröffentlichten Erinnerungen viel |32| Vertrautes wiederfinden, sie werden sagen: »Das war für uns normal, das ging doch allen so« – doch wenn sie sich mit zehn oder zwanzig Jahre Jüngeren darüber austauschen, werden sie feststellen: In Wahrheit sind es verstörende Geschichten.
|33| Zweites Kapitel
Die gut getarnte Vergangenheit
|35| »Gerade erst den Luftschutzkellern entkommen«
Der Roman »Die Erfindung des Lebens« von Hanns-Josef Ortheil erzählt davon, wie ein kleiner stummer Junge sprechen lernt, und er erzählt von einer Kindheit in den fünfziger Jahren. »Die Jahre des Krieges scheinen noch allgegenwärtig«, heißt es dort, »als wären die Menschen gerade erst den Luftschutzkellern und den Bunkern entkommen und als hätten sie den Staub noch nicht ganz von den Mänteln geschüttelt. Angst und Erschöpfung sind im alltäglichen Leben zu spüren, das viel langsamer verläuft als das Leben heutzutage.« 2 Darüber hinaus erzählt das Buch von der Liebe eines Vaters zu seinem Sohn und wie die Vaterliebe ein behindertes Kind stark machte. »Jedenfalls mochte ich meinen Vater sehr, nicht nur wegen seines befreienden Lachens, sondern auch, weil er mich niemals tadelte oder schimpfte oder zu etwas aufforderte, was ich nicht gern getan hätte. Vater und ich – wir verstanden uns gut, auch ohne das ununterbrochene, korrigierende und
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