Nachkriegskinder
können, erklärt er weiter. Vater und Mutter verstanden sich gut, vielleicht zu gut, |38| und Ehekrach war für sie ein Tabu. Jahre später, bei einer Familienzusammenkunft, als alle Kinder erwachsen waren und die Eltern sich wie gewohnt zu einer neuen Redeschlacht rüsteten, sagte Martins älterer Bruder: »Jetzt haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder die 37. Aufführung des immer gleichen Stückes, oder damit aufzuhören.« Alle im Raum lachten, und ab diesem Zeitpunkt wurde auf weitere Aufführungen verzichtet.
Martin Best schiebt seinen leeren Dessertteller zur Seite und lehnt sich entspannt zurück. »Meine Eltern haben wirklich dauernd politisch diskutiert«, sagt er, »alle Themen, die aufkamen: die Grünen, Frauenbewegung, Lohn für Hausarbeit, Gewerkschaften, Arbeitnehmerrechte. Als Jugendlicher fand ich das klasse!« So entstand sein Interesse an Politik. Seine Freunde freuten sich, wenn Martin sie mit in sein Elternhaus nahm. Dass sein Vater auch reaktionäre Sprüche klopfte, dass er manchmal abstruse Argumente in die Debatte warf, war dem Sohn nicht peinlich. Mit dieser Aussage überrascht er mich. Schämt man sich nicht, wenn der eigene Vater wie jemand vom Biertisch redet? »Nein«, wiederholt er. »Meine Freunde fanden die Atmosphäre bei uns zu Hause toll: So offen kann man bei euch miteinander reden … Mein Vater hat ja auch mit meinen Freunden diskutiert. Er hat nachher nie gesagt: Was haben die denn für Einstellungen, die will ich nicht mehr sehen. Es waren freundliche Gefechte sozusagen, die fanden wir alle belebend.«
Bei den Eltern einer Freundin lernte Martin ganz andere Gespräche kennen. Da wurde interessiert gefragt: Wie geht es dir denn, was hast du in der Zwischenzeit gemacht, wie läuft dein Studium? Bei ihm zu Hause, sagt er, seien die persönlichen Themen ausgeblendet worden. Es habe wenig Zärtlichkeit gegeben, der Mutter habe es nicht gelegen, ihre Kinder zu trösten oder mit ihnen zu kuscheln. Da seien er und seine drei Geschwister wohl etwas zu kurz gekommen. »Unsere Eltern haben sich schon dafür interessiert, ob es in der Schule klappt«, fügt er hinzu, »aber die Gespräche beim Essen waren von Politik dominiert.«
|39| Martin erwarb am Familientisch die Basis seiner politischen Bildung und seines Engagements für soziale Gerechtigkeit und Frieden. An der Seite seiner Mutter lernte er Empathie für sozial Benachteiligte. Beim Abitur trug er die Haare lang, er verweigerte den Kriegsdienst. In den achtziger Jahren beteiligte er sich an den Blockaden in Mutlangen – symbolträchtiger Widerstand gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen.
Von Jugend an Pazifist
Er bezeichnet sich als Pazifist. Aber gewaltfreier Widerstand, räumt er ein, wäre heute nicht mehr sein Weg. Überzeugender findet er politische Konzepte, wie durch wirtschaftlichen Aufbau Krieg verhindert werden kann. »Den Jugoslawen«, erläutert er, »hätte ich direkt nach Titos Tod gesagt: Ihr kommt in die EU, aber nur als ein gemeinsames Land, ihr bleibt zusammen und wir geben euch 20 Milliarden Aufbauhilfe.«
1972 durfte Martin zum ersten Mal wählen, sein Kandidat hieß Willy Brandt. Die Mutter verband mit Brandt eine große Hoffnung, sein Vater befürchtete den Anfang des Sozialismus. Später erkannte der Sohn: Die lautstarken politischen Debatten hatten nicht nur die Funktion Dampf abzulassen, wenn man sich über den Ehepartner geärgert hatte. Auffällig war, dass seine Eltern nur selten Themen der deutschen Vergangenheit berührten, während davon im Fernsehen immer häufiger die Rede war, als im Zuge der Studentenunruhen von 1968 die NS-Verbrechen auf den Tisch der Nation kamen.
Viel, sehr viel hätten Martins Eltern dazu sagen können, wären sie in der Lage gewesen, die Gewalteinbrüche in ihr Leben und das Unglück in ihren Familien zu betrauern. Martin Best weiß viel über Trauer, wie wichtig sie ist, um mit seinem Schicksal Frieden schließen zu können. Zwar gelang es Harald und Hannelore Best, stabil zu bleiben, doch heftige Gefühle, scheinbar von der Vergangenheit abgekoppelt, führten ein Eigenleben und drängten |40| zum Ausbruch. Die Wortgefechte zur aktuellen Politik dienten stellvertretend der emotionalen Entladung. Auf diese Weise gelang es, zumindest kurzfristig, innere Spannungen und Aggressionen loszuwerden.
Der Vater von Hannelore Best, ein Funktionär der Zentrumspartei, war von den Nationalsozialisten verfolgt worden. Auf Grund seiner Kontakte zu Widerständlern
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