Nacht über den Wassern
trugen.
Am Mittwochmorgen würde der Clipper für einen neuen Transatlantikflug bereitstehen.
Der Tag, an dem der Krieg ausbrach, war ein schöner Spätsommersonntag, mild und sonnig.
Ein paar Minuten, bevor die Nachricht im Radio gemeldet wurde, stand Margaret Oxenford vor dem herrschaftlichen Ziegelbau, dem Wohnsitz ihrer Familie. Mantel und Hut waren bei dem sommerlichen Wetter fast zu warm, und überdies kochte sie innerlich vor Wut, weil sie zur Messe gehen mußte. Die einsame Glocke im Turm der Kirche auf der anderen Seite des Ortes erklang in monotonem Geläute.
Margaret haßte den Kirchgang, aber ihr Vater bestand darauf, daß sie am Gottesdienst teilnahm, obwohl sie bereits neunzehn war und alt genug, eine eigene Meinung über Religion zu haben. Vor einem Jahr hatte sie den Mut gefaßt, ihm zu sagen, daß sie nicht mehr gehen wollte, aber er hatte sich geweigert, sie auch nur anzuhören. »Findest du nicht, daß es Heuchelei ist, wenn ich in die Kirche gehe, ohne an Gott zu glauben?« hatte Margaret gefragt, und ihr Vater hatte geantwortet: »Mach dich nicht lächerlich.« Niedergeschlagen und zornig hatte sie ihrer Mutter erklärt, daß sie nie wieder in die Kirche gehen würde, wenn sie erst volljährig war. Mutters Erwiderung war gewesen: »Darüber wird dein zukünftiger Mann entscheiden, Liebes.« Soweit es ihre Eltern betraf, war der Streitpunkt damit erledigt; aber Margaret hatte seither jeden Sonntag vor Wut gekocht.
Ihre Schwester und ihr Bruder traten aus dem Haus. Elizabeth war einundzwanzig, ein großes, plumpes und nicht sonderlich hübsches Mädchen. Früher einmal waren die beiden Schwestern sehr vertraut miteinander gewesen. Als Kinder und Halbwüchsige waren sie ständig zusammen, denn sie besuchten nie eine Schule, sondern hatten eine ziemlich willkürliche Erziehung durch Gouvernanten und Hauslehrer genossen. Stets hatten sie sich gegenseitig ihre Geheimnisse anvertraut. Doch dann war eine Entfremdung eingetreten. In den letzten Jahren war Elizabeth ganz auf die starren traditionsgebundenen Ansichten ihrer Eltern eingeschwenkt. Sie war extrem konservativ, leidenschaftlich royalistisch, blind gegenüber neuen Ideen, und sie haßte jede Veränderung. Margaret hatte die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Sie war Feministin und Sozialistin und interessierte sich für Jazz und Kubismus. Elizabeth warf Margaret vor, daß sie mit ihren radikalen Ideen Verrat an der eigenen Familie übe. Margaret ärgerte sich über die Borniertheit ihrer Schwester, aber es betrübte sie auch, daß sie keine Freundinnen mehr waren. Sie hatte nicht viele richtige Freundinnen.
Percy war vierzehn. Er war weder für noch gegen radikale Ideen, aber ein aufgeweckter Junge, und er sympathisierte mit Margarets rebellischem Wesen. Da sie beide unter der Tyrannei ihres Vaters litten, unterstützten sie einander voll Mitgefühl, und Margaret liebte ihren kleinen Bruder sehr.
Einen Augenblick später kamen die Eltern heraus. Vater trug eine gräßliche orangegrüne Krawatte. Er war nahezu farbenblind, aber wahrscheinlich hatte Mutter sie ihm gekauft. Mutter hatte rotes Haar, seegrüne Augen und eine helle, durchscheinende Haut; Farben wie Orange und Grün standen ihr ausgezeichnet. Aber Vater hatte schwarzes, allmählich ergrauendes Haar und ein rötliches Gesicht, an ihm sah der Binder wie ein Warnschild aus.
Elizabeth war mit ihrem dunklen Haar und den unregelmäßigen Zügen dem Vater nachgeraten. Margaret dagegen hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt; sie hätte gern einen Schal aus dem Seidenstoff von Vaters Krawatte besessen. Percys Aussehen veränderte sich so rasch, daß niemand hätte sagen können, wem er schließlich ähnlicher sehen würde.
Sie schritten die lange Einfahrt bis zum Tor hinunter. Dahinter begann der kleine Ort. Die meisten Häuser gehörten Vater, ebenso das gesamte Ackerland ringsumher. Er hatte nichts zum Erwerb dieses Reichtums beigetragen: Mehrere Eheschließungen im frühen neunzehnten Jahrhundert hatten die drei bedeutendsten Grundbesitzer der Grafschaft vereint, und der gewaltige Besitz, der dadurch entstand, war unvermindert von Generation zu Generation weitergegeben worden.
Sie spazierten die Dorfstraße entlang und über den Anger zu der grauen Steinkirche. Wie bei einer Prozession schritten sie durch das Portal: Vater und Mutter voraus, Margaret und Elizabeth als nächste, und Percy hinter den Schwestern. Die Dorfbewohner legten grüßend die Hand an die Stirn, als die
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