Nachtflug
würde nie der Sieg sein, der einen Krieg beendigt und eine Ära glücklichen Friedens eröffnet. Immer würden jedem Schritt, den er tat, tausend gleiche folgen. Ihm war, als trüge er eine bleischwere Last mit erhobenen Armen, wie lange schon: Mühsal ohne Rast und ohne Hoffnung. ›Ich werde alt…‹
Alt, wenn er nicht mehr im Tun selbst seine ganze Befriedigung fand. Er verwunderte sich über sich selber, daß er sich plötzlich mit solchen Fragen abgab, die er sich nie gestellt hatte. Aber sie geisterte um ihn mit schwermütigem Flüstern, die Fülle aller Annehmlichkeiten, die er immer beiseite geschoben hatte: eine verlorene Welt. ›So nah ist das alles? …‹ Er gestand sich ein, daß er alles, was das Leben süß macht, nach und nach immer mehr auf das Alter hin verschoben hatte, auf den Augenblick, da er ›Zeit dazu haben‹ würde. Als ob man wirklich eines Tages Zeit dazu haben könnte. Als ob man ganz am Ende des Lebens den glücklichen Frieden gewinnen könnte, den man sich erträumt. Aber es gibt keinen Frieden. Es gibt vielleicht auch keinen Sieg. Es gibt keine endgültige Rückkehr aller Flugzeuge. Riviere blieb vor Leroux stehen, einem alten Werkmeister, der bei der Arbeit war. Auch Leroux plagte sich seit vierzig Jahren. Und die Arbeit nahm alle seine Kräfte in Anspruch. Wenn Leroux gegen zehn Uhr abends heimkam, oder gegen Mitternacht, so war das nicht eine zweite Welt, die sich ihm bot; keine Umschaltung. Riviere lächelte dem Mann zu, der sein schweres Gesicht hob und auf eine blaugelaufene Welle deutete: »Das saß zu stramm, aber jetzt hab’ ich’s.« Riviere beugte sich über die Welle, war wieder ganz bei der Sache. »Man muß in den Werkstätten sagen, daß sie die Lager da lockerer montieren.« Er befühlte mit den Fingern die Spuren der Reibung, wandte seine Gedanken dann wieder Leroux zu. Eine närrische Frage kam ihm auf die Lippen angesichts dieser strengen Furchen. Er mußte selbst darüber lächeln:
»Haben Sie sich viel mit Liebe abgegeben, Leroux, in Ihrem Leben?«
»Hach, Liebe, wissen Sie, Herr Direktor …«
»Sie sind wie ich, Sie haben nie Zeit gehabt.«
»Nich’ allzuviel .«
Riviere lauschte auf den Ton der Stimme, um zu hören, ob die Antwort bitter klang: sie klang nicht bitter. Dieser Mann empfand angesichts seines vergangenen Lebens die ruhige Befriedigung, wie sie ein Tischler empfindet, der ein Brett schön poliert hat: ›So, das ist getan.‹ ›So‹, dachte Riviere. ›Mein Leben ist getan.‹
Er verscheuchte alle trüben Gedanken, die ihm aus seiner Ermüdung kamen, und wandte sich zur Flughalle, denn man hörte schon den Chilekurier dröhnen.
III
Das Geräusch des Motors schwoll immer kompakter an. Man machte Licht. Die roten Landelichter beschienen eine Flughalle, Funkenmasten, ein quadratisches Gelände. Freudiger Eifer regte sich. »Da ist er!«
Das Flugzeug rollte schon in die Lichtkegel der Scheinwerfer. So funkelnd in dem Glanz, daß es wie neu aussah. Endlich stoppte es vor der Halle. Die Mechaniker und Werkleute drängten sich eilig heran, um die Post auszuladen. Aber der Pilot Pellerin rührte sich nicht von seinem Platz.
»Hallo! Auf was warten Sie denn?«
Der Pilot, geheimnisvoll mit sich beschäftigt, würdigte sie keiner Antwort. Vielleicht hörte er noch das ganze Getöse des Flugs durch sich rauschen. Er schüttelte langsam den Kopf, beugte sich vor, fingerte an irgend etwas herum. Endlich wandte er sich um, den Vorgesetzten und Kameraden zu, und betrachtete sie ernst mit der Miene eines Eigentümers, mit einem Blick, als wollte er sie zählen, messen und wägen, indes er bei sich dachte, daß er sie nun glücklich wiederhätte, und auch diese Flughalle und diesen festen Betongrund und, weiter drüben, diese Stadt mit ihrem Getriebe, ihren Frauen und ihrer Wärme. Er hielt diese Leute da in seinen breiten Händen, wie etwas, das ihm gehörte, das er berühren, hören, anschreien konnte. Er wollte sie zuerst anschreien, daß sie da so ruhig, so sicher ihres Lebens stünden; aber dann wurde er gemütlich:
». Könnt mir was gegen den Durst spendieren!«
Und er stieg aus.
Er wollte seine Fahrt erzählen:
»Wenn ihr wüßtet! .«
Aber damit schien ihm offenbar genug gesagt. Er ging weg, sein Leder auszuziehen.
Als der Wagen ihn zusammen mit einem grämlichen Inspektor und dem schweigenden Riviere nach Buenos Aires fuhr, wurde er traurig: gute Sache, so mit heiler Haut davonzukommen und mit ein paar kernigen
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