Nachtjäger
einen weiten Schritt die Stufen hinunter auf den Kopfstein. Der Kutscher reichte ihr den Koffer. Sie zögerte.
»Soll ich’n reintragen?« Er wies mit unstetem Blick auf das Gebäude, das sich düster gegen einen schweren wolkenverhangenen Himmel abhob.
»Das mache ich schon selbst«, sagte Caroline, die sich vor dem Schnapsatem des Mannes ekelte.
»Is recht …«, grunzte der Kutscher und hielt seine Hand auf. Caroline ließ einen Sovereign in die schmutzige Handfläche tropfen. Der Kutscher sprang auf den Bock. Der Zweispänner machte sich krachend mit stahlbespannten Rädern davon.
Die junge Frau reckte sich und betrachtet das Haus.
Asburyhouse!
Es kauerte vor Caroline wie ein zum Angriff geducktes Tier. Die Fassade wurde von Efeu gefressen und die Giebel waren Schattenrisse vor dem drohenden Unwetter. Nebelfeuchte Dachziegel glänzten wie das Fell eines Panthers. Wetterleuchten ließ die gespenstische Atmosphäre aufflammen, so dass Caroline für einen Moment zu erblinden meinte. Knorrige Äste bildeten eine bizarre Umrandung für das Bild. Caroline fröstelte und zog ihren Kopf zwischen die Schultern. Zögernd griff sie den Koffer, stöhnte, so schwer war er und stapfte den Kiesweg hoch. Dieser verjüngte sich und endete vor einer Tür, dessen Klopfer im Zwielicht funkelte, als habe sich Marley’s Geist darin verirrt. Krachend entlud sich der Himmel. Caroline zuckte zusammen und Gänsehaut überzog ihren Körper.
Erste Regentropfen klatschten auf den Kies.
»Dummes Kind!«, versuchte sie es mit einem aufmunternden Selbstgespräch. »Das ist ein ganz normales Haus. Du hast es von Onkel Albert geerbt und das ist auch schon alles. Nichts Besonderes. Gewiss kein Geisterhaus.« Vielleicht hätte sie Shelleys Frankenstein doch nicht lesen sollen. Man hatte sie gewarnt. Nun ließ sie das dumpfe Gefühl, nur eine Ahnung von Gefahr, nicht los. Das war lächerlich. Sie schüttelte sich. »Und eigentlich ist es ja sehr eindrucksvoll. Was kann Asburyhouse dafür, dass es regnet und blitzt?«, murmelte sie.
Sie betätigte den Klopfer. Einmal, dann noch einmal.
Die Tür musste aus stabilem Holz sein, denn sie vernahm keine Schritte von innen. Entsprechend überrascht war sie, als die Tür aufgerissen wurde.
»Mrs Asbury-Bailey?«
Vor ihr stand vermutlich der Mann, mit dem sie sich verabredet hatte.
»Frederic Densmore«, stellte der Mann sich vor. Also war er jener Anwalt, der die Erbschaftsangelegenheiten geregelt hatte. Bisher kannte Caroline ihn nur von den Briefwechseln, die nach Onkel Alberts Tod notwendig gewesen waren. Sie hatte ihn sich völlig anders vorgestellt. Nicht so … groß! Nicht so athletisch und so verdammt gutaussehend. Schwarze wellige Haare fielen ihm bis auf die Schultern, das Gesicht war glatt rasiert und auf einen Schnauzbart verzichtete der junge Mann ebenso wie auf den Backenbart. Er war braungebrannt wie ein Pirat, das Kinn mit dem Grübchen in der Mitte zeugte von Energie, die schmale Nase bog sich über volle Lippen, und als er lächelte, zeigte er zwei Reihen schneeweiße Zähne. Und dann waren da noch seine Augen … so tief, warm und freundlich, dass Caroline alle Befürchtungen verlor. Sie streckte dem Anwalt den Arm entgegen. Dieser hauchte ihr einen Kuss auf den Handschuh. Geschmeidig waren seine Bewegungen und sehr selbstbewusst.
Er sagte mit dunkler Stimme: »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise, Mrs Asbury-Bailey. Sie gestatten?« Der graue Tweedanzug stand ihm gut, die Stiefel waren blitzblank poliert. Er nahm den Koffer, als handele es sich lediglich um ein leichtes Reisegepäck.
Caroline trat an ihm vorbei. Schwer fiel die Tür ins Schloss.
Mit wenigen Schritten überholte er sie und stellte den Koffer neben dem Kamin ab. Das Feuer wärmte die Empfangshalle. Scheite knisterten. Der Rauchabzug war perfekt, denn außer nach Politur, Leder und altem Holz roch es nach nichts anderem. Sie blickte durch den Raum und freute sich über die große geschwungene Treppe, die ins Obergeschoss führte. Diese Treppe gab dem Haus die Anmutung eines königlichen Gemäuers.
„Sie werden durstig sein”, sagte Densmore.
„Wenn ich’s mir recht überlege …“
„Sie haben die Wahl. Whisky oder Tonic.“
„Tonic?“ Sie hatte noch nie Tonic getrunken, aber schon viel davon gehört.
„Hat Ihr Onkel direkt aus Genf von Schweppes bezogen. Es gibt noch ein paar Kisten im Keller.“
„Dann bitte Tonic.“ Caroline fühlte sich wohl und nett empfangen.
»Recht so, Mrs
Weitere Kostenlose Bücher