Nachtklinge: Roman (German Edition)
mir!«
»Eine Pflaume.«
»Du weißt doch, was ich dir gesagt habe. Du darfst niemals etwas essen, das nicht vorgekostet wurde.«
»Sie war dunkelrot.«
»Bring mir meine Giftschatulle«, rief die Dogaressa herrisch.
Giulietta rannte an den verblüfften Wachen vorbei zu den Gemächern ihrer Tante. Sie hielt schlitternd vor dem offiziellen Arbeitszimmer an und trat ein.
Eine halbes Dutzend Familienporträts der Millioni blickten ungnädig auf sie herab.
Unter der Dienerschaft ging das Gerücht, der Deckel der Schatulle sei vergiftet. Wer ihn berührte und sich danach den Finger ableckte, musste sterben.
Giulietta zögerte, die Hände schon ausgestreckt.
Aber bei dem Gedanken an Marcos unglückliches Gesicht vergaß sie ihre Angst. Sie liebte ihren Cousin, ob er nun schwachsinnig war oder nicht. Sie jagte die Treppe hinab, sodass sie um ein Haar gestürzt wäre, Alexas Kästchen fest an die Brust gepresst. Die Wache vor Marcos Zimmer trat hastig zurück, ohne vorher protokollgemäß Haltung einzunehmen.
Giulietta stellte die Schatulle ab und wandte sich zum Gehen.
»Wohin gehst du?«
»Ich will mir die Hände waschen.«
»Das ist überflüssig«, erklärte die Dogaressa. »Der Deckel ist nicht vergiftet. Das Gerücht habe ich selbst in die Welt gesetzt, um neugierige Diener abzuschrecken.« Sie entnahm der Kiste ein Päckchen, riss es auf und zog einige getrocknete Blätter hervor.
Eines davon legte sie an Marcos Lippen und runzelte die Stirn.
Sie öffnete ein zweites Päckchen und tupfte den Schaum in Marcos Mundwinkeln mit verschiedenen Gräsern ab. Schließlich verfärbte sich ein Farnzweig rötlich. Alexa benetzte ihren Finger mit einem einzigen Tropfen aus einer Flasche und befeuchtete die Lippen ihres Sohnes damit. »Lass uns allein.«
»Ich kann dir helfen.«
»Giulietta, das war ein Befehl deiner Tante.«
Sie hörte nicht auf ihren Onkel. »Wird Marco überleben?«
»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht«, erwiderte die Dogaressa. »Lass uns jetzt allein. Ich habe mit dem Regenten zu reden.«
Widerstrebend ging Giulietta.
Kurz darauf verließ auch der Regent das Zimmer des Dogen.
Hinter einer Säule im Bogengang versteckt, beobachtete sie hasserfüllt, wie er davonging. Ihr Onkel hatte damals befohlen, dass Dr. Crow sie mit einem
Gänsekiel
schwängerte. Ihr Hass war zu tief für Worte.
Er hatte ihr Leben zerstört und sie gegen ihren Willen zur Mutter seines Sohnes gemacht. Für ihn war ihre Schwangerschaft nur ein Schachzug in seinen politischen Ränkespielen. Da Janus keinen Erben zeugen konnte, hatte Alonzo sich der Sache angenommen.
Doch Giulietta und Janus hatten niemals geheiratet.
Inzwischen war sie die Witwe eines anderen, liebte ihr Kind und verabscheute dessen Vater. Ein Zauber verhinderte, ihn je beim Namen zu nennen. War es da ein Wunder, wenn sie unglücklich war? Sie wischte sich die Tränen ab und ging in ihre Zimmer, um ihre Sachen zu packen.
Nicht einmal Marcos Zustand konnte sie dazu bewegen, im Palast zu bleiben.
9
B is zum Abend hatte sich Marcos plötzliche Krankheit in der ganzen Stadt herumgesprochen. Es wurde allerdings nur darüber getuschelt, und auch das nur unter Freunden, denn bei Gerüchten über die Millioni war äußerste Vorsicht geboten.
Trotzdem verbreitete sich die Neuigkeit in Windeseile. Der Zehnerrat schickte schließlich Helfershelfer in alle Schenken, um eine andere Version verbreiten zu lassen. Die angebliche Krankheit war demzufolge frei erfunden und Teil eines geheimen Plans.
Die Maßnahme bewährte sich. Nun rätselte jeder, wessen geheimer Plan es war.
Erst die Explosion in San Lazzaro, kurz darauf die vermeintliche Krankheit des Dogen. Zwar waren sich alle einig, dass hinter den Anschlägen Feinde der Stadt steckten, die Unruhe in Venedig stiften wollten, aber darüber, wer diese Feinde waren, gingen die Meinungen stark auseinander. Die Castellani aus dem Viertel rund um San Pietro di Castello hielten den deutschen Kaiser für den Drahtzieher. Grund genug für ihre Erzfeinde, die Nicoletti, zu behaupten, dahinter stecke kein anderer als der Basileus, und nur Narren und Verräter würden etwas anderes behaupten.
Die Straßenschlacht zwischen Rot- und Schwarzkappen war unvermeidlich. Sie flammte jäh auf, war kurz und brutal und wurde ebenso rasch und brutal von der Wache beendet. Als wenig später ein junger Mann – den Dogaressa Alexa nur als
diesen Jungen
bezeichnete – durch Dorsoduro, ein linksseitiges Viertel am
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