Nachtklinge: Roman (German Edition)
trat Stille ein.
»Bald ist es so weit«, bemerkte Giorgio.
Vielleicht wollte er damit die Behäbigkeit seiner Frau entschuldigen. Die Nachtluft war schwül und klebrig, die Barken mit den Fäkalien stanken entsetzlich. Der Sommer war keine gute Jahreszeit für eine Niederkunft.
»Du bist der Küster von San Giacomo?«
Der Mann nickte misstrauisch. Sein Mundwinkel zuckte. Er ahnte offenbar, dass hinter der Frage noch mehr steckte.
»Dann weißt du, warum ich hier bin.«
Zuerst war Giorgio drauf und dran, alles abzustreiten, aber als er den Mund öffnete, war nur ein Schluckauf zu vernehmen. »Drei Kähne«, sagte er schließlich. »Fünf meiner Männer.«
»Keiner von ihnen ist zurückgekehrt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und deshalb sich die Leichen der Armen in der Krypta?«
»Ich habe keine Leute mehr«, verteidigte sich Giorgio. »Keine Leute und keine Kähne. Glaubt Ihr vielleicht, jemand will für mich arbeiten, seit sich das herumgesprochen hat?«
»Es hat sich herumgesprochen?«
»Natürlich«, sagte Giorgio ungehalten, und vergaß seine Furcht. »Man hört ihr Heulen ja bis hierher.«
»Bei Vollmond?«
»Nein, Nacht für Nacht. Hört doch selbst!«
Tycho spitzte die Ohren. Er vernahm jedoch nur das Flattern der Segel, Taue, die der Wind gegen die Bordkanten schlug, und Schweine, die den Unrat auf dem Dreiseitigen Platz durchwühlten. Auch Giorgio lauschte vergebens.
»Idioten!«, stieß er schließlich hervor.
Tycho sah ihn fragend an.
»Ein paar Männer wollten hinüberrudern und sie erledigen. Wenn Stille herrscht, dann ist sie satt. Sie ist immer still, nachdem sie getötet hat.«
»Du weißt genau, dass sie die Männer tötet?«
»Bis jetzt ist jedenfalls noch keiner zurückgekommen.«
»Hast du der Stadtwache etwas davon gesagt?«
»Meine Cousins sind auf der Insel ums Leben gekommen, und ich habe ihre Leichen entdeckt. Die Wachleute wollten nichts davon wissen.«
»Du sprichst von ›ihr‹. Hast du das Wesen gesehen?«
Der Küster wirkte nervös. »Als der zweite Kahn auch nicht zurückgekommen ist, bin ich im Fischerboot meines Schwagers zur Insel gerudert. Kurz vor dem Ufer habe ich angehalten. Sie ist an Strand gekommen und hat mich angestarrt.«
»Beschreib sie.«
»Sie war nackt, Herr.« Zum ersten Mal bemühte sich Giorgio, höflich zu sein. Wahrscheinlich hatte er begriffen, dass sein Geheimnis keines mehr war, wenn sich ein offizieller Bote einfand. »Sie läuft auf allen vieren, wie ein Hund.«
»Konntest du sie genau sehen?«
Giorgio nickte. »Klapperdürr, Herr. Mit riesengroßen Augen und schwarzem Haar. Sie hat eine Narbe, von der Schulter quer bis hinunter zur Hüfte, und eine zweite Narbe …«, er stockte, »direkt auf der Brust. Sieht aus, als hätte man ihr ins Herz gestochen.«
»Das ist richtig.«
Der Küster wurde blass. »Sagt, dass Ihr scherzt, Herr.«
»Ich war dabei, als sie starb. Jetzt brauche ich deine Hilfe.«
»Wobei denn, Herr?«
»Um sie ein zweites Mal zu töten.«
Giorgio bekreuzigte sich.
25
I ch gehe«, rief Giorgio in eine winzige, dunkle Kammer. Ein gereiztes Schnauben und das leise Greinen eines Säuglings waren die einzige Antwort.
»Dein Schwager erwartet uns an der Anlegestelle?«
»Ja, Herr. Er bringt seinen Cousin mit.« Ehe Tycho widersprechen konnte, fügte der Küster hinzu: »Der Mann ist der Besitzer des Kahns, der auf Euren Befehl mit Erde gefüllt wurde. Habt Ihr denn eine offizielle Genehmigung für diese Fahrt?« Vor Schreck über seine eigene Kühnheit wurde Giorgio bleich.
»In meiner Tasche«, log Tycho.
Nach Einbruch der Dunkelheit durften keine Boote mehr über die Lagune fahren, es sei denn mit offizieller Genehmigung der Zollbehörde und dem Nachweis über eine entsprechend gezahlte Gebühr. Natürlich waren trotzdem Boote unterwegs, Schmuggler und Liebespärchen, Kähne mit Ermordeten, die heimlich beiseitegeschafft werden mussten, und andere, die finstere Absichten hegten.
»Das Boot liegt hier drüben, Herr.«
In der Eile hatte man den Unrat aus dem Kahn gekippt.
Das Boot stank wie eine Latrine und war so schmutzig, dass Tycho das Schlimmste für sein Wams befürchtete. Immerhin war der Boden mit frischer, noch feuchter Erde bedeckt, in der sich Würmer ringelten.
»Mein Schwager, Mario.«
Der vierschrötige, junge Mann trug einen abgewetzten Rock und eine speckige Kappe. Er grüßte Tycho mit einer unbeholfenen Verbeugung und machte sich an einem Tau zu schaffen.
»Und das ist Marios Cousin,
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