Nachtpfade
Schachten, alles steht jetzt unter dem Dekret
der Nationalparkverwaltung. Und sobald du deinen Fuß auf ein Steinchen
außerhalb des markierten Weges setzt, kommt ein Ranger und pfeift dich zurück.«
Sprudel schmunzelte. »Sind wohl
nicht besonders beliebt hier, die Nationalparkranger?«
»Grünzeug-Gendarmen werden sie
von den Einheimischen genannt«, grinste Fanni und spähte die Telefonschneise
hinunter.
Sie schwang die Beine auf die
verbotene Seite der Planke und zeigte auf den Felsbrocken, der die Einfahrt in
die Schneise in zwei schmale Rinnen teilte. »Für mich war es immer ein
Riesenproblem, mit Skiern an dem Felsen da vorbeizukommen. In den Rinnen wirst
du leicht zu schnell, und dann klebst du am nächsten Baum, bevor du abschwingen
kannst. Na ja«, gab sie zu, »eine Rosi Mittermaier war ich nie.«
Sprudel beäugte den Stein. »Es
sieht so aus, als käme man überhaupt nicht daran vorbei.«
»Zugewachsen«, antwortete Fanni.
»Die ganze Schneise wächst langsam zu.«
Sie löste sich von der Planke
und machte ein paar Schritte auf unerlaubtem Boden.
Und das rächte sich auf der
Stelle.
Am Fuß des Felsens, talwärts
gelegen, entdeckte Fanni eine helle Hose. Aus der Hose ragten zwei Füße, die in
weißen Turnschuhen steckten.
Fanni erstarrte.
Sie sah schnell weg und dann
doch wieder hin. Ihr Blick fand eine weiße Bluse mit rötlichen Klecksen. Er
fand ein weißes Gesicht, eingerahmt von schwarzen Haaren.
Schnell fort von hier!, riefen Fannis Gefühle. Hau ab, lass dich in
nichts reinziehen.
»Was ist, Fanni?«, rief Sprudel.
Sag: »Nichts« und geh, riet Fannis Kleinmut.
Eine Verletzte, die Hilfe
braucht!, brachten einsichtige
Gedanken Ordnung in den Krawall – Notruf! Sofort!
Bevor Fanni auf die Anweisung
ihrer Vernunft reagieren konnte, schwang sich Sprudel über das Geländer, trat
zu ihr und sog scharf die Luft ein.
Eine Sekunde später kniete er
bereits am Boden und beugte sich über das weiße Gesicht. Zweige und
Brombeerranken legten sich auf seine Schultern, seine Haare.
Sprudel wischte sie weg und sah
auf. »Fanni«, sagte er, »du musst zur Hütte hinunterlaufen. Der Wirt soll
schnellstens den Notarzt rufen. Er wird ja wohl ein Telefon haben. Mein Handy …«
Fanni hörte nicht mehr, weshalb
Sprudel sein Handy nicht benutzen konnte – ihr eigenes lag wie immer zu Hause.
Sie sprang bereits über die Planke und rannte den felsigen Pfad zur
Falkenstein-Schutzhütte hinunter.
Sie hielt auf den überdachten
Eingang zu, als ihr ein silbernes Edelweiß ins Auge sprang. Es prangte auf
einer Tafel am Hauseck. »Dienststelle Bergwacht« stand darunter.
Bergwacht?
Bei Unfällen in den Bergen
rückt die Bergwacht an!
Fanni schlug einen Haken ums Hütteneck
und entdeckte eine Eingangstür, die in den Anbau an der Ostseite der
Falkenstein-Schutzhütte führte. Sie drückte die Klinke hinunter, riss die
Brettertür auf und trat in einen winzigen Flur. Links erzitterten ein Schrubber
und ein Reiserbesen in der plötzlichen Zugluft, als wollten sie Fanni grüßen.
Direkt vor sich sah Fanni eine
zweite Tür und öffnete sie.
Zwei Bergwächter saßen am Tisch,
volle Biergläser vor sich. Der eine schnitt soeben ein Stück Geräuchertes auf,
der andere säbelte dicke Scheiben von einem Brotlaib.
»Komm nur rein«, forderten sie
Fanni auf, die in der offenen Tür zum Stehen gekommen war. »Magst mitessen?
Warum schnaufst du denn so?«
»Unfall«, keuchte Fanni, »in der
Telefonschneise.«
»Was sagst du?«, fragte der
eine.
»Unfall!«, schrie Fanni.
Da ließen die beiden seufzend
ihre Halben, das Geselchte und das Bauernbrot im Stich, zogen sich rote Anoraks
über, auf deren Rückseite ein weißes Edelweiß leuchtete, und folgten Fanni.
Sprudel kniete nicht mehr allein
unter dem Felsen. Ein Nationalparkranger hockte neben ihm und sprach in sein
Handy.
Als Fanni mit Rudi und Sepp, wie
sich die Bergwächter ihr inzwischen vorgestellt hatten, herankam, erhob sich
Sprudel, ging ihnen entgegen und bat sie, hinter der Planke zu bleiben.
»Sie hat uns hergeholt!«, rief
Sepp und deutete anklagend auf Fanni. »Wir sind die Bergrettung.«
»Hier gibt es niemanden mehr zu
retten«, entgegnete Sprudel. »Der Ranger hat bereits die Polizei alarmiert.«
»Tot?«, fragte Sepp.
Sprudel nickte.
»Auf dem Felsen herumgeturnt,
abgerutscht, Genick gebrochen«, diagnostizierte Rudi ohne den geringsten
Sichtkontakt zur Leiche.
Sepp machte ein paar Schritte am
Geländer entlang und reckte den
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