Nachtpfade
fühle. Ich bin
bewegungsunfähig. Ich meine, im übertragenen Sinn. Es gäbe so viel zu tun, aber
ich bin wie gelähmt.«
»Ich glaube, das legt sich«, sagte Gerhard.
»Wahrscheinlich.« Sie zog schon wieder eine Zigarette
heraus. »Aber ich nehme nicht an, dass Sie mir nachgegangen sind, um über mein
Leben zu plaudern? Es geht um den Mord an dieser Jacky, nicht wahr?«
»Ja.« Gerhard wusste nicht genau, warum er das tat,
aber er präsentierte ihr die ganze Geschichte.
Sie waren weitergegangen und hatten die Halle fast
wieder erreicht. Sybille McNeill hatte sorgfältig zugehört.
»Sie erwarten aber nicht von mir, dass ich Ihnen jetzt
sage, ob ich das für möglich halte. Und um Ihrer Frage vorzubeugen: Mein Bruder
hat mir nur erzählt, dass er unter Mordverdacht stand und dass es in
Wirklichkeit Marianne gewesen ist. Aus Eifersucht. Mehr nicht.« Sie sah ihn an.
»Und ich werde ihn auch nicht weiter fragen«, schickte sie hinterher.
»Frau McNeill, darf ich trotzdem noch eine Frage
stellen?«
Sie antwortete nicht.
»Was hätte Marianne für Anton getan?«
»Alles.«
»Gar alles?«
»Mehr als das: Die beiden hatten ein Verhältnis, das
letztlich sehr tragisch war. Auch deshalb bin ich damals geflüchtet. Mir wurde
das alles zu viel.«
»Tragisch?«
Sie nickte. »Nun, der Verlobte von Marianne, Manfred
Weinling …«
»Wie? Manfred Weinling?« Gerhard stutzte.
»Der Manfred, den Sie kennen, ist der Neffe von jenem
Manfred, den Marianne heiraten wollte. Es gab zwei Brüder, einer war der Vater
des jungen Weinling, den Sie meinen, der andere Bruder war Mariannes
Verlobter.«
Gerhard schluckte. »Alles ziemlich verwoben
miteinander.«
»Hier hängt alles immer zusammen. Alles ist verwoben
und verknotet. Jede Familie ist mit einer anderen verbunden, und es sind selten
die heiteren Geschichten, die zusammenschweißen.«
»Und dieser Manfred Weinling, der kam im Wald ums
Leben?«
»Ja, und Anton gab sich immer die Schuld daran. Der
Baum fiel falsch, aber es war nicht Antons Fehler. Es war niemands Fehler. Aber
anstatt dass Marianne damals wütend geworden wäre oder unfair oder irgendwie
unrational-emotional, war sie es, die Anton getröstet hat. Nicht umgekehrt. Das
hat mich wahnsinnig gemacht. Verstehen Sie?«
Gerhard verstand. Er verstand auf einmal sehr vieles.
»Danke«, sagte er schließlich. Was hätte er auch sonst sagen sollen. »Wann
reisen Sie denn wieder ab?«
»Es wird ein wenig dauern, bis Anton alles verkauft
hat«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Anton kommt mit mir nach Kanada. Das ist sein Wunsch,
und ich bin froh darüber. Vielleicht können wir etwas nachholen, wir zwei.«
»Aber …«
»Was, aber, Herr Weinzirl?« Sie trat näher und nahm
auf einmal seine Hand. »Lassen Sie die Toten ruhen.« Sie stellte sich ein wenig
auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Lernen Sie
reiten, Herr Weinzirl, und leben Sie wohl.« Da war etwas Verschmitztes um ihre
Mundwinkel, und Gerhard konnte ermessen, was sie früher für ein Feger gewesen
sein musste. Er sah ihr nach, wie sie wieder in die Halle ging. Diese Frau würde
immer obenauf sein, weil sie klug war, schön und optimistisch.
Evi kam ihm entgegen. »Wo warst du denn? Ich hab dich
gesucht. Ich dachte, die lynchen mich da drin.« Sie klang vorwurfsvoll.
Gerhard war nicht nach Vorwürfen, ihm war gar nicht
nach Reden. Und so sagte er pampiger als nötig: »Ich hatte eine interessante
Unterhaltung und weiß etwas, was du nicht weißt.«
»Ist das jetzt das
Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-Spiel?« Evi war nicht bereit, sich anmaulen zu
lassen.
»Anton Erhard geht mit seiner Schwester nach Kanada.«
»Was? Das müssen wir verhindern. Wir müssen …« Evi
schrie so laut, dass sich einige der Trauergäste, die ebenfalls draußen
standen, pikiert umdrehten.
»Wir müssen jetzt erst mal gehen«, zischte Gerhard und
packte Evi rüde am Handgelenk.
Sie riss sich los und stampfte zum Auto. Schmiss die
Tür ins Schloss, startete mit quietschenden Reifen. Fuhr viel zu schnell in die
Ammerschlucht hinunter. Kam auf der Brücke ins Schlingern. Hielt an und stieg
aus. Ging zur Beifahrerseite und hielt Gerhard den Schlüssel hin. Wortlos nahm
ihn Gerhard und fuhr los. In Pischlach lag ein roter Kater am Straßenrand. Blut
auf der Straße, getrocknetes Blut um seine Schnauze. Evi hatte Tränen in den
Augen und klang völlig verzweifelt.
»Ich mag Katzen gar nicht, aber das ist so elend. So
unfair. Was ist eine Katze
Weitere Kostenlose Bücher