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Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17

Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17

Titel: Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Hörer aus und führte ihn träge wie in Trance an ihr Ohr.
    »Kai?«, hauchte sie so leise, dass sie es selbst nicht vernahm.
    »Annika? Annika, bist du es?«
    Diese Stimme … Ein Eiszapfen schien über ihr Rückgrat zu streichen.
    »Oh, Annika, mein Kind!«
    »… Vater …?«
    »Oh, mein Kind! Mein geliebtes Kind, es tut mir so entsetzlich leid!«, schluchzte ihr Vater. »Es tut mir so entsetzlich leid, mein Kind! Aber es wird furchtbar werden!«
    Annikas Vater war seit sieben Jahren tot.
    »Oh, mein Kind«, schluchzte die Stimme ihres Vaters, »mein Kind, ich kann dir nicht helfen. Es wird furchtbar werden, mein Kind, so furchtbar, und ich kann dir nicht helfen.«
    Ein Klicken ertönte, und die Leitung war tot. Vor Annikas Gesichtsfeld glitt ein schwarzer Vorhang herab. Sie sank auf das Bett zurück. Der Telefonhörer entfiel ihrer Hand und pendelte neben ihrem reglosen Kopf.
*
    Kai hockte gebeugt auf einem der Kunststoffsitze. Er hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und starrte auf sein Handy. Wenn er nun die Polizei einschaltete? Denen berichtete, dass er seine Freundin zur Klinik gebracht, aber seither kein Lebenszeichen mehr von ihr erhalten habe? Dass sie seither nicht mehr über ihr Mobiltelefon zu erreichen sei? Dass sie keine der Nachrichten beantwortet habe, die er auf ihrer Mailbox hinterlassen hatte? Dass der Klinikpförtner behauptete, sie sei nicht stationär aufgenommen worden?
    Und wenn er ihnen dann Annikas Buch zeigte, das er trotz allem im dritten Stock der Klinik gefunden hatte?
    Würde dann eine Spürhund-Staffel das Universitätsklinikum nach Annika absuchen?
    Die Antwort lautete natürlich: Nein.
    Er betrachtete das leicht unscharfe Close-up ihres »Abschiedskusses«, das sie ihm aufs Handy gesandt hatte … die vorgewölbten Lippen (dezent geschminkt), die Grübchen unter den Nasenflügeln, die kleine Narbe am Kinn … und hauchte einen Kuss aufs Display.
    »Ich finde dich … ich finde dich, Annika!«, versprach er aufgewühlt.
    Er klickte das Fotoalbum durch. Annika war auf vielen Schnappschüssen vertreten. Sie war so wunderschön! Wer sie sah, dem fiel sie auf … und derjenige würde sie sofort wiedererkennen.
    Er wählte das Bild, das er vor drei Monaten auf dem Balkon von Pias Wohnung im fünften Stock gemacht hatte. Annika lehnte mit dem Po am Geländer und lächelte in die Kamera, einige verselbstständigte Haarsträhnen wehten vor den Wolken in der Sommerbrise, und über die Brüstung, auf der sie sich mit den Händen abstützte, stolzierte Gökhans schwindelfreier Kater. Die Aufnahme war scharf, und Annika war sehr gut zu erkennen.
    Kai ließ das Handy in die Hosentasche gleiten. Er stand auf und wandte sich unschlüssig nach rechts, doch kehrte er aus einem unwillkürlichen Impuls heraus gleich wieder um und schlug die andere Richtung ein.
    Die Flure des Krankenhauses waren nachts keineswegs verwaist. Aber niemand achtete auf Kai. Offenbar wirkte er wegen des Verbandes und der Verweilkanüle an seinem Arm wie ein – etwas schmuddeliger – stationärer Patient, der unter Schlaflosigkeit litt und sich die Beine vertrat.
    Eine Station kam schnell in Sicht. Kai blieb stehen und spähte durch die Verglasung der breiten Doppeltür. Jetzt, wo er beabsichtigte, eine Krankenstation zu betreten, spürte er wieder einen Anflug der Angst. Sein Puls ging rascher, und in seinem Bauch zog sich ein Knoten zusammen.
    Durch die Glastür blickte er auf ein Band aus grauem Linoleum, das sich zwischen lindgrün gestrichenen Wänden hinzog. Gedämpftes Neonlicht von der hellgelben Farbe frischen Urins erfüllte den Stationsflur. Die Station wirkte kalt und steril, und sie schien völlig ausgestorben.
    Kai entdeckte einen übergroßen Auslöser an der Wand, bei dem es sich laut Beschriftung um einen Türöffner handelte, und betätigte ihn.
    Die Türflügel schwangen vor wie Arme, die sich ihm entgegenstreckten.
    Kai schluckte hart und setzte sich in Bewegung. Die nummerierten Türen zu beiden Seiten des Ganges waren geschlossen. Außer Kais Schritten war kein Geräusch zu vernehmen.
    Er erreichte den erleuchteten Glaskasten des Schwesternzimmers. Eine junge Krankenschwester saß einsam vor einem Computermonitor, den sie anstarrte, ohne dass ihr Gesichtsausdruck verriet, ob sie hoch konzentriert oder apathisch war. Neben der Mausmatte standen eine Flasche mit Orangensaft und ein halb volles Glas, um das die junge Frau die Finger geschlossen hatte, als hielte sie sich daran fest.
    Kai klopfte

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