Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17
befingerten Annikas empfindlichen Bauchhöcker wie Aussätzige, die eine heilkräftige Reliquie berühren. Jeder der Finger folterte Annika, als wäre er ein glühender Dorn.
Da löste sich einer der Schemen von den übrigen. Das Bett hielt an. Es war Annikas Vater. Der grobe Y-Schnitt des Pathologen spaltete seinen nackten Körper. Mit tränenüberströmtem Gesicht beugte er sich über Annika und nahm ihr den Knebel ab.
Endlich konnte sie schreien.
Das Bett setzte sich in Bewegung.
Schreiend glitt Annika durch den Tunnel zum Licht hin, und je größer es wurde, desto finsterer wurde sein Leuchten, bis es rot glomm wie ein geöffneter Ofen.
Epilog
Samstag, 1. November 2014, 8:10 Uhr.
Pathologische Abteilung des Klinikums.
Romano Bassi, der leitende Sektionsassistent des pathologischen Instituts, kam selten pünktlich aus den Federn. Um sich nicht hetzen zu müssen, nahm er sein Frühstück immer erst am Arbeitsplatz ein.
Schlürfend überlegte er, warum er nie eine hübsche Kollegin erhielt. Inzwischen würde er sich sogar mit einer weniger hübschen begnügen. Doch hier unten arbeiteten ausschließlich Kerle. Dabei wusste Romano genau, dass Frauen keine Angst vor Leichen hatten. Frau Dr. Jelke, die Oberärztin der Pathologie, war dafür der greifbare Beweis.
Nein, nicht greifbar. Das verbat sie sich.
Ganz witzig war der Neue ja, wie Romano zugeben musste. Aber heute war der Tag, an dem sich zeigen würde, aus welcher Sorte Holz der Junge wirklich geschnitzt war.
Der Augenblick der Wahrheit kam schneller als erwartet.
Kaum hatte Romano den Gedanken zu Ende geführt, da tauchte der Neue in der Tür auf. Zögerlich sagte er: »Kommst du mal, Romano? Ich muss dir was zeigen.«
»Was denn?«, fragte Romano scheinheilig.
»Das musst du selbst sehen. Sonst glaubst du mir nicht.«
Romano biss noch einmal herzhaft in den Cheeseburger. Dann stand er auf und folgte dem Neuen nach nebenan in die Kühlkammer.
»Wo?«, fragte er mit vollen Backen.
»Hier drin!«
»Das ist ein Leichenfach.«
»Ich weiß. Aber es sollte ein leeres Leichenfach sein.«
»Sollte? Liegt denn jemand drin?«
»Hoffentlich nicht. Ich habe es gleich wieder zugeschoben. Ich dachte, vielleicht ist es ja doch leer, wenn ich später noch mal nachgucke.«
Im Geist verdrehte Romano die Augen. Das war nicht mehr witzig, sondern debil.
Der Neue öffnete das Fach.
Zehn Zehen ragten in die Luft. An einem hing der Leichenzettel.
Der Neue stieß den angehaltenen Atem aus. »Die war gestern noch nicht da, so viel steht fest. Und sieh mal auf den Zettel. Kein Name, kein Aufnahmedatum, keine Station. Kein Sterbedatum. Keine Todesursache. Nur diese handgeschriebene Zahl: 14/855.«
»Zieh sie raus!«, forderte Romano.
Sie starrten auf die Tote. Sie war jung und makellos. Keine OP-Narben, kein Obduktions-Schnitt, keine Verletzungen. Der Körper wirkte wie aus Alabaster geschnitzt.
» Wow! Das ist ja ein richtiges Schnuckelchen«, strahlte Romano.
»Sie ist wunderschön«, bestätigte der Neue. »Woran mag sie wohl gestorben sein?« Er richtete den Blick auf Romano. »Wir müssen rauskriegen, wer das ist«, drängte er. »Wer hat die Leiche hier reingetan?« Gleich darauf rief er erleuchtet: »Die Nummer! Erkennst du vielleicht die Handschrift?«
»Niemand kennt die Handschrift«, versetzte Romano. »Niemand kennt die Tote. Niemand weiß, woher sie kommt. Das hier ist nämlich die Allerheiligen-Leiche. Etwas, woran du dich gewöhnen musst, wenn du in der Pathologie arbeitest.«
Endlich klappte dem Neuen doch noch die Kinnlade runter.
Romano informierte ihn: »Jedes Jahr am ersten November taucht hier unten in der Pathologie eine namenlose Leiche auf. Einige nennen sie die Allerheiligen-Leiche. Andere sprechen vom Halloween-Opfer. Auf dem Zehenzettel sind immer nur das Jahr und die Leichennummer vermerkt. Im laufenden Jahr 2014 sind bisher 854 Leichen bei uns angefallen. Schnuckelchen ist Nummer 855.«
Der Neue starrte ihn mit großen Augen an. Schließlich stammelte er: »Wir müssen … Frau Dr. Jelke in Kenntnis setzen. Oder besser gleich die Klinikverwaltung!«
Romano schüttelte den Kopf. »Die wissen das längst. Und sie wollen es. Jedes größere Krankenhaus der Welt bringt das Halloween-Opfer dar, wenn auch in manchen Ländern unter anderem Namen und zu anderer Zeit – jedes! Das Opfer dient dazu, dass all die Geister, die Grund haben, ein Krankenhaus heimzusuchen – und glaube mir, die sind Legion – friedlich bleiben.«
»Und
Weitere Kostenlose Bücher