Narrenturm - Roman
jedoch zum Tor hin hoffnungslos von Fuhrwerken verstopft, und das durch das Geschrei erregte und verschreckte fremde Ross ergriff nun selbst die Initiative,was dazu führte, dass Reynevan, noch bevor er dessen recht gewahr wurde, im Galopp in Richtung Markt sprengte, wobei der Schlamm nach allen Seiten spritzte und das Fußvolk geschwind auseinander fuhr. Er musste sich nicht umwenden, um zu wissen, dass die Verfolger ihm dicht auf den Fersen waren. Er hörte das Hufgetrappel, das Wiehern der Pferde, die wilden Schreie der Sterz-Brüder und das wütende Gebrüll zu Boden fallender Menschen.
Er drückte dem Ross die Fersen in die Flanken, streifte dahingaloppierend einen Bäcker, der einen Brotkorb trug, und riss ihn um, so dass Brote, Brötchen und Hörnchen wie ein Hagelschlag in den Schlamm fielen, wo sie gleich darauf von den Hufen der Sterz’schen Pferde zertreten wurden. Reynevan sah sich nicht um, mehr als alles, was hinter ihm geschah, interessierte ihn, was vorne los war, und vor ihm erhob sich ein im Näherkommen immer größer werdendes Fuhrwerk, hoch beladen mit Reisig. Es nahm fast die ganze Gasse ein, und an der einzigen passierbaren Stelle hockte eine kleine Schar halb nackter Kinder, die eifrig damit beschäftigt waren, etwas ungemein Interessantes aus dem Mist zu buddeln.
»Jetzt haben wir dich, Bielau!«, brüllte von hinten Wolfher Sterz, der ebenfalls bemerkt hatte, was sich da vorne abspielte.
Das Ross raste in scharfem Galopp dahin, so dass keine Rede davon sein konnte, es anzuhalten. Reynevan beugte sich zur Mähne hinunter und schloss die Augen. Daher sah er auch nicht, dass die halb nackten Kinder flink und behende wie Ratten auseinander stoben. Er blickte auch nicht nach hinten, nahm also auch nicht wahr, wie sich das Bäuerlein in seinem Schafsfellumhang, das den Wagen lenkte, bass erstaunt umwandte, Deichsel und Wagen dabei mit sich drehend. Er sah auch nicht, wie die Sterz-Brüder gegen den Wagen prallten. Auch nicht, wie Jens Knobelsdorf aus dem Sattel flog und dabei die Hälfte der Reisigladung mit sich riss.
Reynevan jagte die Johannisgasse zwischen dem Rathaus und dem Haus des Bürgermeisters entlang und preschte ingestrecktem Galopp auf den großen Marktplatz von Oels. Er hielt auf die südliche Straßenfront und den dicken viereckigen Turm über dem Ohlauer Tor zu. Reynevan jagte mitten durch Leute, Pferde, Ochsen, Schweine, Wagen und Marktstände und ließ ein wahres Schlachtfeld hinter sich. Menschen kreischten, wimmerten und fluchten, Hornvieh brüllte, Schweine quiekten, Kramläden und Marktstände stürzten übereinander, und ein Hagel von unterschiedlichsten Gegenständen ging hernieder – Töpfe, Schüsseln, Zuber, Hacken, Schüreisen, Fischreusen, Schaffelle, Filzkappen, Lindenholzlöffel, Talgkerzen, Bastschlappen und tönerne Hähnchen mit Trillerpfeifen. Wie ein Regenschauer ergossen sich die verschiedensten Nahrungsmittel ringsumher – Eier, Käse, Backwaren, Erbsen, Grütze, Möhren; Rübchen, Zwiebeln, ja sogar lebendige Krebse. Federwolken flogen durch die Luft, begleitet vom Höllengeschrei des Federviehs. Die Brüder Sterz, immer noch auf Reynevans Fersen, vollendeten das Werk der Verwüstung. Als eine Gans dicht vor seiner Nase aufflatterte, scheute Reynevans Pferd und geriet mit den Vorderhufen in einen Fischstand, von dem es Kisten und Fässer herunterriss. Der erboste Fischhändler holte mit dem Käscher zu einem heftigen Schlag aus, verfehlte den Reiter, traf aber das Pferd mit voller Wucht auf die Hinterbacken. Es wieherte und warf sich zur Seite, riss dabei einen Kramladen mit Garn und Bändern um, tänzelte einige Sekunden auf der Stelle, stampfte dabei in einer silbrigen, stinkenden Masse von Plötzen, Brassen und Karauschen herum, in die sich wie von Feenhand bunte Spulen woben. Nur mit einigem Glück konnte sich Reynevan im Sattel halten. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Garnhändlerin mit einem riesigen Beil hinter ihm hersprang, das, Gott weiß wie, in den Garnhandel geraten war. Er spuckte die Gänsedaunen aus, die ihm an den Lippen klebten, zügelte das Pferd und galoppierte dann die Fleischergasse hinunter, von wo aus es, wie er wusste, nur noch ein paar Schritte zum Ohlauer Tor waren.
»Ich reiß’ dir die Eier ab, Bielau!«, schrie Wolfher Sterz hinter ihm her. »Ich reiß’ sie dir ab und stopf’ sie dir in den Schlund!«
»Küss mir den Steiß!«
Es waren nur noch vier Verfolger. Rotkirch hatten die erbosten Händler vom
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