Mein neues Leben als Mensch (German Edition)
Das italienische Krümelgen
Die Salzstange ist das Baguette des kleinen Mannes. Des sehr kleinen Mannes. In diesem Fall ist der kleine Mann sechs Jahre alt, heißt Nick, hockt neben mir am Schreibtisch und krümelt meine Tastatur voll. Eigentlich mag ich es nicht, wenn er neben mir sitzt, während ich arbeite. Er behauptet zwar immer, dass er ganz still bliebe und gar nichts mache, aber er hält sich nicht daran, zieht Schubladen auf und beschwert sich darüber, dass meine Arbeit langweilig sei. Ob man nicht etwas am Computer spielen oder wenigstens ein paar Filme bei Youtube ansehen könne. Dann schmeißt er irgendwas runter, wird des Zimmers verwiesen und heult, worauf ich väterliche Schuldgefühle entwickle und zum Ausgleich eine halbe Stunde lang mit ihm Fußball spiele. Schließlich möchte ich nicht, dass er später Banken überfällt oder welche gründet und zu seiner Verteidigung anführt, sein Vater habe sich nicht um ihn gekümmert. Also Fußball. Und wer macht währenddessen meine Arbeit? Niemand.
Auch eben gerade kam Nick wieder rein und machte eine Geste, der zufolge er seinen Mund mit einem Schlüssel verriegle. Ich gab ihm eine Chance und zeigte auf den Besucherstuhl neben meinem Schreibtisch. Er nahm Platz und zog eine Tüte Salzstangen hervor, die er geräuschvoll öffnete. Dann schaute er mir stumm dabei zu, wie ich schrieb, und krümelte Laugengebäck in meine Tastatur.
Das «k» und das «ä» knistern bereits. Zum Glück brauche ich das «ä» nicht sehr oft, außer heute, ausgerechnet in diesem Text, denn da kommt «Knäckebrot» drin vor. Auch dies krümelt beträchtlich und ist eine der Leibspeisen meiner Frau Sara. Ich kann dieser Art von Brotgenuss nichts abgewinnen.
Knäckebrot essen ist wie Krieg. Es bringt die schlechtesten Eigenschaften der Menschen zum Vorschein. Krcks. Knusper. Raspel. Unsere ansonsten geradezu enervierend harmonische Ehe gerät in marianengrabentiefe Krisen, sobald Sara Knäckebrot isst. Krck. Sie liebt das Zeug. Für mich ist das Ersatzbrot für nach dem Atomschlag oder den zweiten Weihnachtstag. (Diese beiden Ereignisse haben miteinander gemein, dass kein richtiges Brot mehr da ist.) Knäckebrot erinnert mich an furnierte Pressspanmöbel und pikt ins Zahnfleisch und macht Radau. Sara stört das wenig. Sie sitzt gern abends auf der Couch, knackt Knäcke und fragt alle fünf Minuten, was der Typ in dem Film gerade gesagt hat. Ich habe es aber genauso wenig verstanden wie sie, ich habe nur sie gehört. Und ihr Knäckebrot. Krcks .
Meine Frau krümelt sich durchs Leben wie eine löchrige Zwiebacktüte. Außer im Kino. Dort krümelt sie kaum, denn da schläft sie ein. Die schummrige Beleuchtung dort führt bei ihr zwangsläufig zum Einpennen, ganz egal, wie tumultuös die Veranstaltung ist. Einmal waren wir in einem Film mit Tom Hanks. Er spielte den Angestellten einer Transportfirma, der eines Tages mit dem Flugzeug abstürzt, jahrelang auf einer einsamen Insel lebt und schließlich gerettet wird. Sara pennte ein, noch bevor Tom Hanks auf dem Eiland strandete. Wenige Momente vor dem Ende des Films – der vom jahrelangen Überlebenskampf ausgezehrte Hanks war in die Zivilisation zurückgekehrt – erwachte Sara ruckartig und fragte: «War der Typ nicht eben noch viel dicker?» Also erzählte ich ihr den ganzen Film und verpasste den Schluss. Aber wie gesagt: Normalerweise, wenn sie nicht schläft, krümelt sie.
Das sind die Gene, glaube ich. Sara ist die Tochter eines in den Sechzigern nach Deutschland eingewanderten Gastarbeiters. Ich glaube, ich habe das schon einmal irgendwann erwähnt. Ihr Vater heißt Antonio Marcipane, und meine Kinder nennen ihn seit Jahren «Das Krümelmonster». Wie für die meisten Italiener bedeutet Abendessen für ihn: Weißbrot in Atome spalten, die anschließend auf dem Tisch, unter dem Tisch sowie in der Atemluft verstreut werden.
Seine italienischen Krümelgene hat er an seine Tochter und auch an seine beiden Enkelkinder weitergegeben, was nicht nur unsere Tochter Carla beim Frühstück, sondern auch und besonders Nick jederzeit eindrucksvoll zur Schau stellen.
Wie in diesem Augenblick: Die Tüte mit den Salzstangen ist leer, meine Tastatur ist voll. Er beginnt sich zu langweilen und biegt Büroklammern auf. So kann ich nicht arbeiten. Also muss ich ihn rausschmeißen, was ihn wie immer empört. Ich setze mich wieder an den Schreibtisch, nehme die Tastatur in die Hand, drehe sie um und schüttle sie. Heraus fallen Krümel,
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