Narziss Und Goldmund
alte Abt Daniel und auch noch der gute liebe Pater Anselm und auch etwa noch der freundliche Pförtner und der lebenslustige Nachbar Müller – aber auch diese waren schon beinahe unwirklich geworden. Schwerer als von ihnen würde er Abschied nehmen von der großen steinernen Madonna in der Kapelle, von den Aposteln des Portals. Lange stand er vor ihnen, auch vor den schönen Schnitzereien des Chorgestühls, vor dem Brunnen im Kreuzgang, vor der Säule mit den drei Tierköpfen, lehnte sich im Hof an die Linden, an den Kastanienbaum. Dies alles würde ihm einmal eine Erinnerung sein, ein kleines Bilderbuch in seinem Herzen. Schon jetzt, da er noch mittendrin war, begann es ihm zu entgleiten, verlor an Wirklichkeit, wandelte sich gespenstisch in etwas Gewesenes. Mit Pater Anselm, der ihn gern um sich hatte, ging er auf die Kräutersuche, beim Klostermüller sah er den Knechten zu und ließ sich je und je zu Wein und gebackenen Fischen einladen; aber alles war schon fremd und halb wie Erinnerung. So wie drüben in der Kirchen-dämmerung und der Bußzelle sein Freund Narziß zwar 74
wandelte und lebte, für ihn aber ein Schatten geworden war, so stand alles rings um ihn entwirklicht, atmete Herbst und Vergänglichkeit.
Wirklich und lebendig war nichts mehr als das Leben in ihm innen, das bange Schlagen des Herzens, der wehe Stachel der Sehnsucht, die Freuden und Ängste seiner Träu-me. Ihnen gehörte er an und gab sich hin. Mitten im Lesen oder Lernen, mitten zwischen den Schulkameraden konnte er in sich versinken und alles vergessen, nur den Strö-
men und Stimmen des Innern hingegeben, die ihn hin-wegzogen, in tiefe Brunnen voll dunkler Melodie, in farbige Abgründe voll märchenhafter Erlebnisse, deren Klänge alle wie die Stimme der Mutter klangen, deren tausend Augen alle die Augen der Mutter waren.
Sechstes Kapitel
Eines Tages rief Pater Anselm Goldmund in seine Apothe-ke, seine hübsche, wunderbar duftende Kräuterkammer.
Hier kannte Goldmund sich gut aus. Der Pater zeigte ihm eine gedörrte Pflanze, zwischen Papierblättern sauber aufbewahrt, und fragte ihn, ob er diese Pflanze kenne und genau beschreiben könne, wie sie draußen im Felde aussehe. Ja, das konnte Goldmund; die Pflanze hieß Johanniskraut. Deutlich mußte er alle ihre Merkmale beschreiben.
Der alte Mönch war zufrieden und gab seinem jungen Freunde den Auftrag, am Nachmittag ein gutes Bündel solcher Pflanzen zu sammeln, deren Lieblingsstandorte er ihm angab.
»Du bekommst dafür einen schulfreien Nachmittag,
mein Lieber, du wirst nichts dagegen haben und wirst nichts dabei verlieren. Auch die Kenntnis der Natur näm-75
lich ist eine Wissenschaft, nicht bloß eure blöde Grammatik.«
Goldmund bedankte sich für den sehr willkommenen
Auftrag, ein paar Stunden Blumen zu sammeln, statt in der Schule zu sitzen. Damit die Freude vollkommen würde, er-bat er sich vom Stallmeister das Pferd Bleß, und bald nach Tische holte er das Tier aus dem Stall, das ihn heftig be-grüßte, sprang auf und trabte sehr zufrieden in den warmen leuchtenden Tag hinaus. Ein Stündchen oder mehr ritt er spazieren, genoß die Luft und den Felderduft und vor allem das Reiten, dann erinnerte er sich seiner Aufgabe und suchte einen der Plätze auf, die ihm der Pater be-schrieben hatte. Dort band er das Pferd unter einem schattigen Ahorn an, plauderte mit ihm, gab ihm Brot zu fressen und machte sich dann auf die Pflanzensuche. Einige Stücke Ackerland lagen hier brach, von vielerlei Un-kraut überwuchert, kleine kümmerliche Mohnpflanzen mit letzten blassen Blüten und schon vielen reifen Samen-kapseln standen da zwischen verdorrten Wickenranken und himmelblau blühender Wegwarte und verfärbtem
Knöterich, ein paar Haufen zusammengeworfener Feld-steine zwischen zwei Feldern waren von Eidechsen bewohnt, hier standen auch schon die ersten gelb blühenden Stauden Johanniskraut, und Goldmund fing an zu pflü-
cken. Als er eine gute Handvoll beisammen hatte, setzte er sich auf die Steine und ruhte. Es war heiß, und er blickte begehrlich zum Schattendunkel eines fernen Waldrandes hinüber, aber so weit wollte er doch nicht von den Pflanzen und von seinem Pferde weggehen, das er von hier aus noch sehen konnte. Er blieb auf den warmen Feldkieseln sitzen, hielt sich ganz still, um die geflohenen Eidechsen wieder hervorkommen zu sehen, roch am Johanniskraut und hielt dessen kleine Blättchen gegen das Licht, um die hundert winzigen Nadelstiche in ihnen zu
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