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Narziss Und Goldmund

Narziss Und Goldmund

Titel: Narziss Und Goldmund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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    Wunderlich, dachte er, da hat jedes von den tausend kleinen Blättchen diesen kleinwinzigen Sternhimmel in sich gestochen, fein wie eine Stickerei. Wunderlich und unbegreiflich war doch alles, die Eidechsen, die Pflanzen, auch die Steine, überhaupt alles. Der Pater Anselm, der ihn so gern mochte, der konnte nun sein Johanniskraut nicht selbst mehr holen, er hatte es in den Beinen und war an manchen Tagen unbeweglich, und seine Arzneikunst
    konnte es nicht heilen. Vielleicht würde er schon bald eines Tages sterben, und die Kräuter in der Kammer dufteten weiter, aber der alte Pater war nicht mehr da. Vielleicht aber lebte er auch noch lange, vielleicht zehn oder zwanzig Jahre, und hatte dann immer noch dieselben weißen dünnen Haare und dieselben drolligen Faltenbündel um die Augen; aber er selbst, Goldmund, was würde in zwanzig Jahren mit ihm sein? Ach, alles war unverständlich und eigentlich traurig, obwohl es auch schön war. Man wußte nichts. Man lebte und lief auf der Erde herum oder ritt durch die Wälder, und manches schaute einen so fordernd und versprechend und sehnsuchterweckend an: ein Stern am Abend, eine blaue Glockenblume, ein schilfgrüner See, das Auge eines Menschen oder einer Kuh, und manchmal war es, als müsse jetzt gleich etwas Niegesehenes und doch lang Ersehntes geschehen, ein Schleier von allem fallen; aber dann ging es vorüber, und es geschah nichts, und das Rätsel wurde nicht gelöst und der geheime Zauber nicht entbunden, und zuletzt wurde man alt und sah so pfiffig aus wie der Pater Anselm oder so weise wie der Abt Daniel und wußte vielleicht noch immer nichts, wartete und horchte noch immer.
    Er hob ein leeres Schneckenhaus auf, es klirrte schwach zwischen den Steinen und war ganz warm von der Sonne.
    Versunken betrachtete er die Windungen des Gehäuses, die eingekerbte Spirale, die launige Verjüngung des Krön-77
    chens, den leeren Schlund, in dem es perlmuttern schimmerte. Er schloß die Augen, um die Formen nur mit den tastenden Fingern zu erfühlen, das war eine alte Gewohnheit und Spielerei von ihm. Die Schnecke zwischen den losen Fingern drehend, tastete er gleitend, ohne Druck, ihre Formen liebkosend nach, beglückt vom Wunder der For-mung, vom Zauber des Körperlichen. Dies, dachte er träumerisch, war einer der Nachteile der Schule und der Gelehrsamkeit: es schien eine der Tendenzen des Geistes zu sein, alles so zu sehen und darzustellen, als ob es flach wäre und nur zwei Dimensionen hätte. Irgendwie schien ihm damit ein Mangel und Unwert des ganzen Verstandes-wesens bezeichnet, doch vermochte er den Gedanken nicht festzuhalten, die Schnecke entglitt seinen Fingern, er fühlte sich müde und schläfrig. Den Kopf über seine Krauter gebückt, die im Welken mehr und mehr zu duften begannen, schlief er in der Sonne ein. Über seine Schuhe liefen die Eidechsen, auf seinen Knien welkten die Pflanzen, unter dem Ahorn wartete Bleß und wurde ungeduldig.
    Vom fernen Walde her kam jemand gegangen, ein junges Weib in einem verblichenen blauen Rock, ein rotes Tüchlein ums schwarze Haar gebunden, mit braunge-branntem Sommergesicht. Das Weib kam näher, ein Bündel in der Hand, eine kleine brennrote Steinnelke im Munde. Sie sah den Sitzenden, betrachtete ihn lange aus der Entfernung, neugierig und mißtrauisch, sah, daß er schlafe, kam behutsam näher, auf braunen nackten Füßen, blieb dicht vor Goldmund stehen und sah ihn an. Ihr Mißtrauen schwand, der hübsche schlafende Jüngling sah nicht ge-fährlich aus, er gefiel ihr wohl – wie kam der hierher auf die Brachfelder? Blumen hatte er gepflückt, sah sie mit Lä-
    cheln, sie waren schon welk.
    Goldmund öffnete die Augen, aus Traumwäldern zu-
    rückkommend. Sein Kopf lag weich, er lag im Schoß einer 78
    Frau, in seine verschlafenen verwunderten Augen blickten fremde nahe Augen warm und braun. Er erschrak nicht, es war keine Gefahr, freundlich schienen die warmen braunen Sterne herab. Nun lächelte die Frau unter seinem erstaunten Blick, lächelte sehr freundlich, und langsam begann auch er zu lächeln. Auf seine lächelnden Lippen kam ihr Mund herab, sie begrüßten sich in einem sanften Kuß, bei welchem Goldmund alsbald jenes Abends im Dorfe und des kleinen Mädchens mit den Zöpfen gedenken
    mußte. Aber der Kuß war noch nicht zu Ende. Der Frauen-mund verweilte an dem seinen, spielte weiter, neckte und lockte und ergriff zuletzt seine Lippen mit Gewalt und Gier, ergriff sein Blut und weckte es auf

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