Narziss und Goldmund
geheime holde Beziehung zu den Säulen und Kapitalen der Fenster und Türen, den Ornamenten der Altäre, zu diesen schön profilierten Stäben und Kränzen, zu diesen Blumen und krautig wuchernden Blättern, die aus dem Stein der Säulen brachen und sich so sprechend und eindringlich falteten. Es schien ihm ein wertvolles, inniges Geheimnis: daß es außer der Natur, ihren Pflanzen und Tieren noch diese zweite, stumme, von Menschen gemachte Natur gab, diese Menschen, Tiere und Pflanzen aus Stein und Holz.
Nicht selten brachte er eine Freistunde damit hin, diese Figuren, Tierköpfe und Blätterbündel nachzuzeichnen, und auch wirkliche Blumen, Pferde, Menschengesichter versuchte er manchmal zu zeichnen.
Und sehr liebte er die Kirchengesänge, namentlich die Marienlieder. Er liebte den festen strengen Gang dieser Gesänge, ihre immer wiederkehrenden Anflehungen und Lobpreisungen. Er kon nte ihrem ehrwürdigen Sinn anbe tend folgen oder konnte auch, des Sinnes vergessend, nur die feierlichen Maße dieser Verse lieben und sich von ihnen erfüllen lassen, von den langgezogenen tiefen Tönen, von den vollen tönenden Vokalen, von den frommen Wie derholungen. Im innersten Herzen liebte er nicht die Gelehrsamkeit, nicht Grammatik und Logik, obwohl auch sie ihre Schönheit hatten, sondern mehr liebte er die Bilder— und Klangwelt der Liturgie.
Immer wieder unterbrach er auch für Augenblicke die zwischen ihm und den M itschülern eingetretene Entfrem dung. Auf die Dauer war es ihm ärgerlich und langweilig, von Ablehnung und Kühle umgeben zu sein; immer wieder brachte er einen mürrischen Pultnachbarn zum Lachen, einen schweigsamen Bettnachbarn zum Plaudern, gab sich eine Stunde lang Mühe, warb und war lieb und gewann ein paar Augen, ein paar Gesichter, ein paar Herzen für eine Weile für sich zurück. Zweimal erreichte er es durch solche Annäherungen, sehr wider seine Absicht, daß er wieder aufgefordert wurde, mit »ins Dorf zu gehen«. Da erschrak er und zuckte rasch zurück. Nein, er ging nicht mehr ins Dorf, und es war ihm gelungen, das Mädchen mit den Zöpfen zu vergessen, ihrer nie mehr zu gedenken, oder doch beinahe nie mehr.
Viertes Kapitel
Lange hatten Narzissens Belagerungsversuche das Geheimnis Goldmunds uneröffnet gelassen. Lange hatte er scheinbar vergeblich sich bemüht, ihn zu erwecken, ihn die Sprache zu lehren, in der das Geheimnis mitteilbar wäre.
Was der Freund ihm von seiner Herkunft und Heimat erzählt hatte, hatte kein Bild ergeben. Es war da ein schattenhafter, gestaltloser, aber verehrter Vater, und dann die Sage von einer schon vor langer Zeit verschollenen oder umgekommenen Mutter, die nur no ch ein blasser Name war. Allmählich hatte Narziß, im Seelenlesen bewandert, erkannt, daß sein Freund zu den Menschen gehöre, welchen ein Stück aus ihrem Leben verlorengegangen ist, welche unter dem Druck irgendeiner Not oder Bezauberung sich dazu verstehen mußten, einen Teil ihrer Vergangenheit zu vergessen. Er sah ein, daß bloßes Befragen und Belehren hier unnütz sei; er sah auch, daß er allzusehr an die Macht der Vernunft geglaubt und viel vergebens geredet habe.
Nicht vergeblich aber war die Liebe geblieben, die ihn mit dem Freunde verband, und die Gewohnheit vielen Zusammenseins. Trotz aller tiefen Verschiedenheit ihrer Wesen hatten sie beide viel voneinander gelernt; es war zwischen ihnen neben der Vernunftsprache allmählich eine Seelen— und Zeichensprache entstanden, so wie zwischen zwei Wohnstätten zwar eine Straße sein mag, auf welcher Wagen fahren und Reiter reiten können, daneben aber noch viele kleine Spielwege, Nebenwege, Schleichwege entstehen: Wegchen für Kinder, Pfade für Verliebte, kaum be merkbare Wege von Hund und Katze. Allmählich hatte Goldmunds beseelte Einbildungskraft auf manchen magischen Wegen sich in des Freundes Gedanken und ihre Sprache eingeschlichen, und dieser wieder hatte manches von Goldmunds Sinn und Art ohne Worte verstehen und mitfühlen gelernt. Langsam reiften, im Licht der Liebe, neue Verbindungen von Seele zu Seele, hinterher erst kamen die Worte. So kam eines Tages, von keinem erwartet, ein Gespräch zwischen den Freunden zustande, an einem schulfreien Tage in der Bibliothek – ein Gespräch, das sie mitten in den Kern und Sinn ihrer Freundschaft stellte und weithin neue Lichter warf.
Sie hatten über Astrologie gesprochen, welche im Kloster nicht getrieben wurde und verboten war, und Narziß hatte gesagt, Astrologie sei
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