Narziss und Goldmund
verstanden hatte, tat es nicht mehr weh. Auch jetzt, wenn diese Schmerzen wiederkommen, sind es nicht Schmerzen, es sind nicht Feinde, es sind die Finger der Mutter, die mir das Herz herausnehmen.
Fleißig ist sie daran. Manchmal drückt sie zu und stöhnt wie in Wollust. Manchmal lacht sie und brummt zärtliche Töne. Manchmal ist sie nicht bei mir, sondern am Himmel oben, zwischen den Wolken seh ich ihr Gesicht, groß wie eine Wolke, da schwebt sie und lächelt traurig, und ihr trauriges Lächeln saugt an mir und zieht mir das Herz aus der Brust.«
Immer wieder sprach er von ihr, von der Mutter.
»Weißt du noch?« fragte er an einem der letzten Tage.
»Einmal hatte ich meine Mutter vergessen, aber du hast sie wieder beschworen. Auch damals hat es sehr weh getan, wie wenn Tiermäuler in meinen Eingeweiden fraßen. Da waren wir noch Jünglinge, hübsche junge Knaben waren wir. Aber schon damals hat die Mutter mir gerufen, und ich mußte folgen. Sie ist überall. Sie war die Zigeunerin Lise, sie war die schöne Madonna des Meisters Niklaus, sie war das Leben, die Liebe, die Wollust, sie war auch die Angst, der Hunger, der Trieb. Jetzt ist sie der Tod, sie hat ihre Finger in meiner Brust.«
»Sprich nicht zu viel, Lieber«, bat Narziß, »warte bis morgen.«
Goldmund blickte ihm mit seinem Lächeln in die Augen, mit diesem neuen Lächeln, das er von seiner Reise mitgebracht hatte, das so alt und so gebrechlich aussah und das manchmal ein wenig schwachsinnig zu sein schien, manchmal wie lauter Güte und Weisheit blickte.
»Mein Lieber«, flüsterte er, »ich kann nicht bis morgen warten. Ich muß Abschied von dir nehmen, und zum Abschied muß ich dir noch alles sagen. Höre mir noch einen Augenblick zu. Ich wollte dir von der Mutter erzählen, und daß sie ihre Finger um mein Herz geschlossen hält. Es ist seit manchen Jahren mein liebster und geheimnisvollster Traum gewesen, eine Figur der Mutter zu machen, sie war mir das heiligste von allen Bildern, immer trug ich es in mir herum, eine Gestalt voll Liebe und voll Geheimnis. Vor kurzem noch wäre es mir ganz unerträglich gewesen zu denken, daß ich sterben könnte, ohne ihre Figur gemacht zu haben, mein Leben wäre mir unnütz erschienen. Und nun sieh, wie wunderlich es mir mit ihr gegangen ist statt daß meine Hände sie formen und gestalten, ist sie es, die mich formt und gestaltet Sie hat ihre Hände um mein Herz und löst es los und macht mich leer, sie hat mich zum Sterben verführt, und mit mir stirbt auch mein Traum, die schöne Figur, das Bild der großen Eva-Mutter. Noch sehe ich es, und wenn ich Kraft in den Händen hatte, könnte ich es gestalten. Aber sie will das nicht, sie will nicht, daß ich ihr Geheimnis sichtbar mache. Lieber will sie, daß ich sterbe. Ich sterbe gern, sie macht es mir leicht.«
Bestürzt hörte Narziß den Worten zu, er mußte sich tief über seines Freundes Gesicht hinabbücken, um sie noch verstehen zu können. Manche hörte er nur undeutlich, manche hörte er wohl, doch blieb ihr Sinn ihm verborgen.
Und nun schlug der Kranke nochmals die Augen auf und blickte lang in seines Freundes Gesicht. Mit den Augen nahm er Abschied von ihm. Und mit einer Bewegung, als versuche er den Kopf zu schütteln, flüsterte er »Aber wie willst denn du einmal sterben, Narziß, wenn du doch keine Mutter hast? Ohne Mutter kann man nicht lieben.
Ohne Mutter kann man nicht sterben.«
Was er später noch murmelte, war nicht mehr verständlich. Die beiden letzten Tage saß Narziß an seinem Bett, Tag und Nacht, und sah zu, wie er erlosch. Goldmunds letzte Worte brannten in seinem Herzen wie Feuer.
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