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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ihr an der Leiche stehen und einen Apfel essen. Nur ist es verboten, im Präp-Saal zu essen. Vorsicht, hier läuft ein Gefäß …« Er beugte sich über Svenjas Schulter; seine Wange berührte ihre, als er den dünnen Schlauch einer Vene behutsam vom Gewebe trennte. Er roch nach sehr starkem Rasierwasser, und neben dem Formalin war der Geruch angenehm.
    »Das mit dem Zuspätkommen war eine blöde Idee«, sagte er leise. »Der Prof lässt gerne mal jemand im Testat durchrasseln, den er nicht mag. Ich bin Nils, ich helfe euch. Wenn du ein Problem hast, komm zu mir, okay?«
    »In meinem Küchenschrank wohnt ein Kind«, sagte Svenja.
    »Alles klar«, sagte Nils und ging weiter zum nächsten Tisch.
     
    Die Sache war: Die anderen sahen alle gleich aus.
    Sie waren nicht unfreundlich, aber auf eine seltsame, schwäbische Art unnahbar.
    Eine Gruppe von Mädchen zeigte ihr, wo sie sich umziehen und in welchem Schrank sie ihren Kittel aufhängen und ihren Präp-Kasten aufbewahren durfte. Sie teilte den Schrank mit einem Mädchen namens Kathrin. Ihre Freundinnen vom Nachbarschrank hießen Katharina und Karin, und Svenja wusste schon jetzt, dass sie sie nie würde auseinanderhalten können. Sie waren klein, hübsch, dunkeläugig und strebsam, und in ihren Pferdeschwänzen wippte die Gewissheit, dass sie nie irgendwo zu spät kommen würden.
    Keiner fragte: Oh, du bist neu hier? Wo wohnst du? Wie gefällt es dir?
    Keiner sagte: Wollen wir einen Kaffee trinken? Du siehst aus, als hättest du etwas auf dem Herzen.
    Schließlich saß Svenja alleine auf einer der Holzbänke neben der Anatomie und suchte ihre Zigaretten. Die strebsamen Mädchen rauchten selbstverständlich nicht. Die Jungen stiegen auf Fahrräder und fuhren den Berg hinunter. Sie trugen kurze Hosen und Polohemden, sie wirkten sehr sorglos, aber überhaupt nicht wie Studenten. Svenja war in einer Schulklasse netter fleißiger Kinder gelandet, die ohne sie spielen gingen.
    Sie war beinahe erleichtert, als der Rasierwassergeruch neben ihr auftauchte.
    »Hey«, sagte Nils. »Sieh zu, dass du dir die oberflächlichen Venen des Armes fürs nächste Mal anguckst. Er wird dich fragen.«
    Svenja nickte. »Aber das mit dem Kind, das war ernst gemeint«, sagte sie. »Ich …«
    Nils sah auf sein Handy. »Ich muss los, sorry. Hab gleich noch ein Seminar und morgen ’ne Klausur, für die ich lernen muss.« Er seufzte. »Man sieht sich.«
    Svenja rauchte ihre Zigarette alleine.
    Unten im Tal erstreckten sich weite, bewaldete Hügel bis in die Ferne, mehr wie ein Landschaftsgemälde als eine tatsächliche Landschaft. Neben der Bank stand ein knorriger Obstbaum, in dem Bienen summten. Ein Stück weiter unten, vor der mintgrün gestrichenen, nagelneuen Cafeteria der HNO -Klinik, saß ein junger Arzt und rauchte ebenfalls allein. Er sah nett aus. Er hatte all dies hinter sich. Sie dachte, sie könnte hinübergehen und ihn ansprechen, einfach nur so. Aber da stand er auf und ging hinein.
    Und für einen merkwürdigen Moment dachte sie, sie würde heulen. Es war, als wäre dieser ihr völlig fremde HNO -Arzt die einzige und letzte Chance gewesen, hier jemanden kennenzulernen.
    Keiner wollte etwas von ihr. Sie konnte genauso gut wieder nach Hause fahren. Die einzige Person, die sie brauchte, war ein Kind, das es vielleicht gar nicht gab.
    »Hey, das war ja ein beschissener Anfang, was?«, sagte da jemand und ließ sich neben sie auf die Bank fallen. »Als wär es so schlimm, mal zu spät zu kommen. Die müssen immer irgendeinen quälen, was? Die Arschlöcher.«
    Svenja starrte den Menschen an, der sich neben sie gesetzt hatte. Sie hatte ihn ganz bestimmt noch nie gesehen. Er trug kein Polohemd und keine kurze Hose, sondern eine ziemlich abgerissene Jeans und ein zu buntes T-Shirt, das nach Batikunfall aussah. Sein Kopf war ein Durcheinander an braunen Rastalocken. »Warst du … da … drin?«, fragte Svenja ungläubig.
    Der Typ nickte. »Tisch fünf. Ulna und Radius. Das war ich. Ich hab dir vorgesagt.« Er musterte sie einen Moment lang. »Du heulst«, stellte er fest.
    »Nein«, sagte Svenja schnell.
    »Okay«, sagte der Typ. »Dann nicht.«
    Eine Weile sahen sie gemeinsam über das Land hin.
    »Die Obstbäume hier oben sind alt«, sagte der Typ schließlich. »Die ham sie stehen lassen, komplett durch die Baustellenzeit durch. Sie haben ihre lichten Momente.«
    Sie schwiegen wieder eine Weile, und Svenja hielt ihm die Zigarettenschachtel hin.
    »Ich rauch nicht«, sagte er.

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