Nebelgrab (German Edition)
bis der Weg für seine Tante frei war.
Es war merkwürdig, wieder hier in Süchteln zu sein; im Städtchen der ruhigen Straßen. Seit drei Jahren wohnte er in Düsseldorf. Dort fühlte er sich frei und unabhängig. Hier die Kleinstadt, dort die Großstadt. Manchmal überlegte Adrian, ob es klug gewesen war, so früh das Elternhaus zu verlassen; doch wenn er sich ins Gedächtnis rief, wie bieder es ihm immer vorkam, dass es hier in der Kleinstadt wichtig war, wer sonntags zur Kirche ging und wer wann wegen welcher Wehwehchen beim Doktor saß, fühlte er sich in seiner Selbstständigkeit äußerst wohl. Obwohl das Städtchen durch Neubaugebiete enorm an Masse zugelegt hatte und verschiedene Supermarktketten hier einen lukrativen Standort entdeckt hatten, war für ihn der Staub des Kleinbürgerlichen auf diesen Straßen unübersehbar.
Während er auf seine Tante wartete, wurde er von einer den Gang entlang eilenden Person gegrüßt. »Adrian? Adrian Seemann? Bist du’s wirklich? Na so was! Dass ich dich noch mal treffe!« Ein alter Herr mit grauen Augen, die von unzähligen Fältchen umgeben waren, nahm seine rechte Hand und schüttelte sie kräftig. Er sprach auf ihn ein, und es dauerte einen Augenblick, bis Adrian begriff, dass er seinem ehemaligen Englischlehrer gegenüberstand.
»Ach, Herr Schwab, jetzt hätte ich Sie beinahe nicht erkannt. Sie sind ja ganz grau geworden.« Er lächelte gequält und wünschte sich plötzlich weit fort von dieser Stimme der Vergangenheit.
Vor seinem inneren Auge tauchten missratene Klassenarbeiten, Strafmaßnahmen der Lehrer und Eltern und sein heißer Wunsch nach Unabhängigkeit auf. Die Masse an Erinnerungen an seine Schulzeit bedrängte ihn geradezu. Es war, als wäre er wieder der Schüler Adrian Seemann, den alle nur »Matrose« genannt hatten. Wie witzig. Wie lustig. Spätestens im achten Schuljahr hatte er nur noch ein Gähnen für diesen lahmen Spruch übriggehabt. Um diesem Spott und der eingefahrenen Langeweile zu entkommen, hatte er beschlossen, die Qualifikation fürs Gymnasium zu schaffen. So hatte er Süchteln und den vernebelten Ansichten zumindest stundenweise entgehen können, um die Schule in Viersen zu besuchen.
Viersen, zwar auch klein und ländlich, war zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Danach hatte es nur noch aufwärtsgehen können. Die Realschule war endlich Geschichte und der Besuch des Gymnasiums eine erste Bestätigung seines aufkommenden Fleißes gewesen. Nicht mit Bravour, aber doch mit ordentlichen Leistungen hatte er drei Jahre später die Hochschulreife erlangt und nicht lange mit einer eigenen Wohnung gezögert. Mit geschickten Argumenten hatte er seinen Eltern schnell ein Versprechen zu einer monatlichen Unterstützung abgerungen. Verschiedene Jobs brachten zusätzlich genug Einkommen, um in Düsseldorf auf gesättigtem Niveau leben zu können.
Und dass er wegen Untauglichkeit nicht zur Bundeswehr musste, war ein schicksalsgegebener Vorteil, den er sehr zu schätzen wusste. Der Start in die gefühlte Selbstständigkeit hatte somit fließend und unspektakulär funktioniert. Adrian genoss das Studentenleben und vergaß dabei schon mal eine Vorlesung oder gar eine Klausur. Als aber hin und wieder die Erfolge seines temporären Fleißes fast wie zufällig durch gute Noten sichtbar wurden, gerierte der Ehrgeiz zum Genuss der besonderen Art. Mit dem wachsenden Gefühl, seine bis dahin nur angestrebte Selbstständigkeit auch beweisen, gar verdienen zu können, wurde der Ehrgeiz ein fester Bestandteil seines Charakters.
Immer öfter mussten die Kneipen ohne seine Anwesenheit auskommen, immer öfter schrieb er seine Semesterarbeiten länger, ausführlicher und fundierter. Die guten Noten wurden zum Muss, das er mit zunehmender Lust erfüllte. Zuletzt war er der beste Student seines Semesters in Betriebswirtschaftslehre.
Sein Englischlehrer eilte mit einem lauten Lachen und einem genuschelten »Ja, der Adrian, frech wie immer« weiter, und endlich stand Martha neben ihm. Sie zog ihn am Arm in eine Ecke des Ganges. Unter einem Plakat von Marlene Dietrich durfte er sich schließlich setzen.
»Siehst gut aus, Junge«, sagte Martha, nachdem sie die Blumen in Empfang genommen und ohne sie anzusehen neben sich auf einen Schemel gelegt hatte. »Was treibt dich so plötzlich in die Heimat, hm? Raus mit der Sprache! Hattest du etwa Sehnsucht nach deiner alten Tante? Ich hab seit drei Jahren nichts von dir gehört, außer den üblichen,
Weitere Kostenlose Bücher