Nebelgrab (German Edition)
sehen sein. Dieser Sohn der Stadt hat ein wenig aufgeräumt mit angestaubten Ansichten; hat Mut bewiesen, seine Meinung und seine Erfahrungen zu sagen; hat dieses in seinem großen Werk über Das Zweite Gesicht getan. Allerdings war das nur möglich, indem er die Stadt verlassen hat. War das gut oder schlecht für Süchteln? Man vermag es nicht zu sagen, aber man vermag mit Stolz über diesen Mann zu reden, auch wenn manch einer ihn als Wortverdreher bezeichnet.
Die Ur-Süchtelner erzählen den neu Zugezogenen nur zu gern ihre Geschichten der Heimatstadt. Dass zum Beispiel in jedem September eine ganze Woche lang zu Ehren einer Heiligen, die gar keine Heilige ist, Messen auf dem »Heiligenberg« im »Hohen Busch« abgehalten werden, und dass diese Heilige dem Ort den Beinamen »Irmgardisstadt« gegeben hat. Eine Geschichte, die an die 1000 Jahre alt ist und immer wieder erzählt und zelebriert wird, obwohl keiner so recht weiß, was alles daran erfunden ist.
Kritische Zeitgenossen rütteln hin und wieder am Standbild der heiligen Irmgard, die doch nie von der Kirche heiliggesprochen wurde. Man zweifelt gar, ob sie tatsächlich gelebt hat. Dinge, die keiner hören will. Dinge, mit denen sich einzelne hervortun wollen? Wer wagt es, die Geschichte Süchtelns wegen ein paar unbedeutender Fakten zu ändern; Fakten, die dem Status der Stadt nur Schaden zufügen würden?
Da doch das Klinikum das einzig Herausragende an dieser Stadt ist, etwas, das den Menschen Halt in Form von Arbeitsplätzen gibt, kann es doch nicht sinnvoll sein, dem Ort die Geschichte einer anmutigen Frau namens Irmgard zu nehmen. Eine Frau, die alles für die Armen getan hat, was in ihrer Macht stand, die ihr Leben der Kirche gewidmet und all ihr irdisches Hab und Gut verschenkt hat. Eine Frau, die der Legende nach zeitweise im »Hohen Busch« gelebt und sich von Beeren und Kräutern ernährt hat. Drei Pilgerreisen nach Rom soll sie unternommen, schließlich in Köln gelebt und dort ein Armenkrankenhaus errichtet haben. Zu Zeiten, als das Gebiet des heutigen Süchtelns und Viersens noch im Morast versunken war und Recht und Ordnung andere Stellenwerte als die gegenwärtigen hatten, soll diese gute Frau allein und standhaft ihre Jungfräulichkeit und Frömmigkeit gelebt haben.
Das kann, das darf nicht angezweifelt werden! Ihre Geschichten sind erzählt und niedergeschrieben, ihre Person in Bildern in Süchtelns Kirche verewigt und ihr Sarkophag steht gar im Dom zu Köln. Was will eine unbedeutende Stadt denn mehr – einen Professor, der zu den Kritikern zählt?
Terminabsprache
Mit der leeren Kaffeekanne in der Hand las Adrian die Presseerklärung, die Professor Wiedener vermutlich an alle erreichbaren Zeitungen der Gegend verschickt hatte. Bisher hatte niemand einen Bericht zu seinem geplanten Buch gebracht. Wenn es wider Erwarten ein gutes Buch war, könnte Karla recht haben; sie hatte oft recht und sah in scheinbar unwichtigen Ereignissen brandaktuelle Storys. Er erinnerte sich, wie sie ihn im Sommer zur Büchermeile auf die Kö geschickt hatte. »Herrgott!«, hatte er gerufen, »alle Welt weiß, dass da Bücher verkauft werden! Was soll ich denn darüber schreiben?«
»Schreib eben das, was die Leute nicht wissen. Schreib über das, was die Antiquare nicht auf, sondern unter den Tischen haben. Entwickle eine Spürnase! Du bist der Reporter, also finde deine Story!«
Und Adrian hatte seine Story gefunden. Eine, die nicht von Büchern gehandelt hatte, sondern von einem Penner, der jeden Tag von einem der Aussteller mit Essen versorgt worden war. Die Story war der Reißer im Juni gewesen. Als Folge hatte man Hunderte privater Spenden für »die Tafel« bekommen, und viele Obdachlosen hatten davon profitiert. Karla hatte recht gehabt.
Vielleicht stand Adrian nun wieder vor einem solchen Fall, der zunächst unscheinbar aussah, aber einiges an Tiefe bot.
Er las erneut das Fax. Es ließ vieles offen. Adrian wurde nicht klar, um welches Genre es sich handelte. Er konnte nur herauslesen, dass das Buch zwar fertig, aber noch unveröffentlicht war. Er als Süchtelner wusste natürlich mit den Andeutungen etwas anzufangen. Er kannte schließlich die Geschichte der heiligen Irmgard, die hier offensichtlich eine Rolle spielte. Außerdem kannte er sogar den Professor dem Namen nach; er wusste, dass er ein früherer Bekannter seiner Großtante war.
Adrian legte das Papier auf die Spüle und ließ
Wasser in die Kanne laufen, um es in die Kaffeemaschine
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