Nebelgrab (German Edition)
Prolog
Am 10. November 2006 um 19.45 Uhr fand die Haushälterin Margret Stein ihren Arbeitgeber Professor Konrad Wiedener mit durchgeschnittener Kehle in seinem Arbeitszimmer. Bereits drei Minuten später waren die Nachbarn vor dem Haus in der Bergstraße Nummer 37 versammelt, alarmiert durch Frau Steins hysterische Schreie.
Die Nachbarn eilten erschrocken ins Haus des Opfers und fanden eine Leiche, die wie eine abgelegte Marionette im Sessel hing. Das Blut tropfte noch auf den beigefarbenen Teppichboden.
Auf der Straße, die zunehmend einem Schauplatz für Volksbelustigung glich, befand sich ein Fremder, der wie zufällig ins Geschehen geraten war. Während einige beherzte Männer den Zugang zum Haus abriegelten, der armen Frau Stein eine Jacke umlegten und beruhigend auf sie einredeten, stand dieser junge Mann wie eine Statue auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses. Die Todesnachricht verbreitete sich um ihn herum erst laut, schließlich mit Pietät versehen leiser, dann im Flüsterton, und in den umliegenden Vorgärten pustete man nach und nach die dort zur Zierde drapierten Martinsfackeln aus. Die Lichterketten an den Hauseingängen erloschen und innerhalb weniger Momente entstand das Bedürfnis, die Sankt-Martin-Stimmung zu verschieben oder gar zu beseitigen.
Keinem fiel der Mann auf, auch nicht den Polizisten, die kurz darauf das Haus absperrten und mit der Spurensicherung begannen. Scheinwerfer flammten auf, Beamte in weißen Overalls scheuchten die Nachbarschaft wie lästige Hühner aus dem Vorgarten der Nummer 37. Die Menschenmenge in der Bergstraße wuchs kurzfristig zum Pöbel, der Lärmpegel stieg mit der Geschäftigkeit der Polizisten. Der junge Mann fiel immer noch nicht auf, auch nicht, dass er eine Tasche wie einen Schatz an seine Brust drückte und mit eigenartigem Blick auf das Fenster starrte, hinter dem der Tote im Sessel saß. Niemand konnte ahnen, dass der Mann eine halbe Stunde zuvor eine Verabredung mit Professor Wiedener gehabt hatte …
Adrians Auftrag
Der Student und Lokalreporter Adrian Seemann lehnte mit zufriedenem Blick an der Theke in seinem Lieblingsimbiss, der Fischbraterei Beiners in Viersen, und sah zu, wie die Verkäuferin sein Backfischbrötchen zubereitete. Er liebte diese Prozedur; seit Jahren schon kam er mindestens einmal im Monat her und scheute auch seit seinem Umzug nach Düsseldorf den Weg hierher nicht. Er hatte in Dülken seine Eltern besucht und war jetzt auf dem Weg nach Willich ins Redaktionsbüro der »NRW«, der »NiederRheinWoche«. Zwar schätzte seine Chefin Karla Schröder pünktliches Erscheinen, aber sie würde sich heute wieder damit abfinden müssen, dass Backfisch für einen 22jährigen Schreiberling ein unbedingtes Muss darstellte. Der Abstecher auf die Gladbacher Straße kostete Adrian eine halbe Stunde, die er sich gönnte, denn zu beobachten, wie das Backfisch-Brötchenpaket erst in eine Pommesschale gebettet, mit einer Zitronenscheibe garniert, dann mit Frittenpapier zugedeckt und in eine alte Zeitung gewickelt wird, war eine Tradition in seinem Leben, die er nicht missen mochte. Sein Appetit auf die frittierten Kalorien stieg um ein Vielfaches, als ihn die junge Frau hinter der Theke lächelnd fragte: »Remoulade?«
»Nee, zu fett!« Adrian griente, während er Kleingeld aus seiner Börse kramte. Mit beiden Händen nahm er das Fischpäckchen in Empfang und drückte mit dem Ellenbogen die Tür auf. Er könnte das Brötchen auch direkt vor Ort essen, aber das machte beileibe nicht so viel Spaß, wie sein Auto mit dem unvergleichlichen Frittiergeruch zu schwängern. Außerdem war einhändiges Autofahren im nachmittäglichen Berufsverkehr nicht klug, aber spannend. Es schärfte seine Sinne und wirkte inspirierend. Er wollte Karla eine Story vorschlagen, zu der sie einfach nicht Nein sagen konnte. Vielleicht würde sie ihn dann endlich mit dem Quatsch um diesen verknöcherten Süchtelner Professor in Ruhe lassen.
Er ließ sich in den Schalensitz fallen und wickelte das Backfischbrötchen aus der Zeitung, die ein Datum von September aufwies.
»Papierrecycling, sehr lobenswert! Hoffentlich staubt die Zeitung nicht.« Er grinste über seinen eigenen Witz und ließ seine Augen trotz des veralteten Datums gewohnheitsmäßig über die Schlagzeilen huschen: »Verkehrsunfall mit Fahrerflucht«; »Medizinerstreik und geschlossene Arztpraxen«; »Düsseldorfer Antiquitätenhändler immer noch auf Suche nach gestohlenen Insignien«. Einhändig knüllte
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