Nebra
sie sich auch vor diesem Augenblick fürchtete, es war unumgänglich. Als seine flammende Gestalt über dem Opferstein erschien, spürte sie, wie angegriffen ihre Nerven waren. Die Verschmelzung hatte sie übermenschliche Kraft gekostet. Lange würde sie die Brücke nicht aufrechterhalten können. Die Hände wie zum Gebet erhoben, reckte sie den Dolch in die Höhe. »Flammender?« »Herrin?«
Die Stimme ließ den Saal erzittern. Es war das erste Mal, dass Hannah den Dämon sprechen hörte. Seine Tonlage schien sich über mehrere Oktaven gleichzeitig zu erstrecken, als ob viele verschiedene Stimmen zeitgleich dasselbe sagten. Vermutlich sind es sieben, ging es ihr durch den Kopf. Die sieben Stimmen der Winddämonen.
»Ich möchte, dass du dorthin zurückkehrst, wo du hergekommen bist. Fahre zurück in den Schoß der Erde und kehre nie wieder. Ich gebe dich frei. Die vier Siegel der Beschwörung sind dein, verfahre mit ihnen, wie du willst. Wenn ich diesen Ort verlassen habe, verschließe ihn, auf dass kein Mensch ihn jemals wieder betreten möge. Dies ist mein letzter Befehl an dich.«
Der Dämon nickte.
Mit vielstimmigem Gelächter erhob sich die flammende Erscheinung in die Luft und breitete ihre Schwingen aus. Der Opferstein begann von innen heraus zu glühen. Erst rot, dann gelb und schließlich in einem grellen Weiß. Die Himmelsscheiben fingen Feuer, zerschmolzen zu Bächen aus flüssigem Metall und versanken dann zusammen mit dem Obsidian in einem Teich aus Lava. Millionenwerte, zerstört in einem Au-genblick. Doch es war nötig. Sie bargen viel zu viel Macht in sich. Es gab ein letztes Aufglühen, als der Dämon seine Schwingen zusammenfaltete, dann stürzte er kopfüber in die Tiefe. Das Licht erlosch. Der Teich aus flüssigem Gestein begann sich abzukühlen, und eine dünne Kruste erschien auf seiner Oberfläche. Langsam wurde es wieder dunkel in der Höhle, die nur mehr von den sieben Ölfeuern erhellt wurde. Nach wenigen Minuten war dort, wo eben noch der Opferstein gestanden hatte, eine flache Senke aus frisch erkalteter Lava. Hannah atmete auf und ging langsam zu John hinüber. Sie sah ihn zusammengekauert an der Felswand sitzen. Sein Gesicht hinter den Händen verborgen haltend, wirkte er wie ein verschrecktes Tier, das am liebsten in einem Erdloch verschwunden wäre. Konnte es sein, dass er sich vor ihr fürchtete?
Sie hockte sich neben ihn und legte ihren Arm um ihn. Ein Zittern lief durch seinen Körper. »Es ist alles gut«, flüsterte sie leise und begann, seinen Nacken zu massieren. »Der Spuk ist vorbei. Ich bin wieder da.« Nach einer Weile ließ John die Hände sinken und drehte seinen Kopf zu ihr. Sein Gesicht war schweißbedeckt, und seine Augen glänzten wie bei einem Fieberkranken. Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn behutsam. Seine Lippen fühlten sich rissig an, als wäre er kurz vorm Verdursten. Der Bann des Dolches schien sie vor der Hitze geschützt zu haben. John hingegen war ihr schutzlos ausgeliefert gewesen. Sie empfand Mitleid mit ihm. Mitleid und noch etwas anderes. Liebe? Es zerriss ihr das Herz, ihn so leiden zu sehen. Höchste Zeit, von hier zu verschwinden. »Wie sieht's aus?«, fragte sie. »Kannst du gehen?« Er blickte an seinen Beinen hinab, versuchte sie ein wenig zu belasten, dann nickte er.
»Gut«, sagte sie. »Dann lass uns hier verschwinden. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe von diesem Ort die Schnauze gestrichen voll.«
John blickte sie mit großen Augen an.
»Was ist?«, fragte sie unsicher. »Hab ich was Falsches gesagt?«
»Etwas Falsches?« Er schüttelte den Kopf. Die Besorgnis in seinem Gesicht wich mehr und mehr einem zaghaften Grinsen.
»Oh nein«, sagte er. »Ganz im Gegenteil.«
75
Zwei Wochen später...
Dienstag, der dreizehnte Mai.
Die Ausstellungsräume im zweiten Stock des Urzeitmuseums in Halle waren überfüllt mit Menschen, die sich drängelnd und schiebend in Richtung des Südwest-Flügels bewegten, dorthin, wo vor einem Jahr die Abteilung frühe Bronzezeit ihre Pforten geöffnet hatte. Türsteher standen vor jedem Eingang und achteten peinlich genau darauf, dass nur Personen eingelassen wurden, die über einen gültigen Presseausweis verfügten. Das Volk musste draußen bleiben. Trotzdem ließen viele Menschen es sich nicht nehmen, dem Ereignis zumindest aus der Ferne beizuwohnen. Grund für die Aufregung war eine Meldung, die wenige Tage zuvor die Runde durch sämtliche Medien gemacht hatte. In ihr
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