Nebra
drückte zu. Mehr als ein Flattern unter den Lidern des Wächters war nicht zu erkennen, dann tat er seinen letzten Atemzug. Blut strömte aus der Wunde und lief die Rinnen entlang bis zu den Vertiefungen, in denen die Scheiben ruhten. Hannah schloss die Augen. Jetzt würde es jeden Moment so weit sein. Innerlich bereitete sie sich darauf vor, dem Dämon zu begegnen, seine Macht durch ihre Adern strömen zu lassen. Nichts geschah.
Ein schrilles Gelächter riss sie aus ihrer Trance. »Ich habe dir gesagt, dass es so nicht funktioniert!« Michaels Gesicht war zu einer Maske des Triumphes verzerrt. »Du wirst ihn niemals beherrschen. Niemals!«
Hannah hob die Klinge und stach ein zweites Mal zu. Und noch mal und noch mal. Nichts geschah.
Da hörte sie eine Stimme neben sich. »Es muss ein unschuldiges Opfer sein.« Hannah drehte sich um. Cynthia hatte sich am Stein hochgezogen. Auf wackeligen Beinen kam sie zu ihr herüber.
»Mein Gott, Cyn, leg dich wieder hin. Du musst dich ruhig verhalten.«
Cynthia schüttelte den Kopf. Ihre Gesichtsfarbe hatte sich von einem blassen Grün zu einem stumpfen Grau gewandelt. »Ein unschuldiges ... Opfer.« »Was sagst du?«
»Wie im Märchen, weißt du? Die Jungfrau und der Drache.« »Cynthia, nein.«
Trotz Hannahs Ermahnung begann sie, auf den Opferstein zu klettern. »Der Wächter ist... verseucht. Böses Blut.«
»Was tust du?« Hannah konnte kaum glauben, was sie sah. »Hilf mir.« Mit einem wütenden Tritt beförderte Cynthia den leblosen Körper des Wächters vom Opferstein. Dann ergriff sie Hannahs Hand und zog sich hoch. Die Archäologin blickte ungläubig. »Was hast du vor?« Cynthia legte sich nieder auf den Altar, dorthin, wo soeben noch der Wächter gewesen war. Dann nahm sie Hannahs Hand und setzte sich den Dolch auf die Brust. »Nein.«
»... musst das Ritual ausführen.« Hannah schüttelte den Kopf.
»Sterbe ... sowieso. Nichts kann das noch verhindern.« »Das kannst du nicht von mir verlangen.« »Schnell... Zeit drängt.« Die Augen der jungen Frau hatten einen so flehenden Ausdruck, dass es Hannah das Herz brach. »Kann nicht mehr länger ... bring mich zu Karl. Bitte.« Hannah blickte auf den Dolch. Die Klinge schimmerte im Licht der Flammen. Sie betrachtete die feinen Verzierungen und fuhr mit dem Daumen über die scharfe Klinge. Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich kann das nicht. Ich weiß, dass ich dich hier rausbringen kann und dass du wieder gesund wirst. Lass es mich versuchen.«
Mit eiskalten Fingern führte Cynthia den Dolch an eine Stelle oberhalb ihres Herzens. »Das ist keine Frage des Wissens, sondern des Glaubens. Lass mich nicht umsonst sterben.« Sie nahm Hannahs andere Hand und führte sie zum Knauf. »Bitte.«
Sie schenkte der Archäologin ein letztes aufmunterndes Lächeln, dann spürte Hannah einen sanften Druck. Die Klinge schien wie von selbst in Cynthias Brust zu verschwinden. So leicht glitt sie nach unten, dass Hannah glaubte, sich getäuscht zu haben. In diesem Moment hörte sie einen Schrei von Michael. Sie blickte nach unten und sah, dass nur noch der lederumwundene Griff aus Cynthias Körper ragte. Vorsichtig zog sie den Dolch heraus. Das Metall pulsierte in einem tiefen Rot. Blut trat aus der Wunde, tropfte auf den schwarzen Stein und lief durch die Rinnen auf die Himmelsscheiben zu. Cynthia lächelte immer noch, doch ihre Augen waren starr. Es war nicht zu übersehen, dass sie einen schnellen Tod gestorben war.
Hannahs Blick verschwamm hinter einem Vorhang aus Tränen. Alles war ... verkehrt. Oben war unten und unten oben. Gutes war falsch und Falsches gut. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sie konnte es nicht fassen, was sie soeben getan hatte. War sie tatsächlich schuld am Tod eines Menschen? Einer Freundin? Hatte sie sich soeben des schrecklichsten Verbrechens schuldig gemacht, zu dem Menschen überhaupt fähig waren? Oder war es der Dolch selbst gewesen? Sie wusste es nicht.
Während sie über Cyns Gesicht strich und ihr die Augen schloss, sprach sie ein stilles Gebet. Möge der Wunsch der jungen Frau sich erfüllen und der Tod sie an die Seite ihres Geliebten bringen. Mögen ihrer beider Seelen Ruhe finden. Mit zusammengefalteten Händen saß Hannah da und starrte stumm auf den Dolch.
Der Raum um sie herum schien zu verblassen. Alles trat in den Hintergrund: der Opferstein, John und Michael, die Überreste der Hohepriesterin und die sieben Schalen mit dem brennenden Öl. Es war, als habe sich ein
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