Neukölln ist überall (German Edition)
Schulsystem und welche Gründe gibt es dafür, einen Sprachkursus zu belegen?
Zwei Dinge mussten die Stadtteilmütter als Voraussetzung mitbringen: den guten Willen und die deutsche Sprache. Und dann machten wir sie zu Botschafterinnen der deutschen Gesellschaft. Sie erhielten als Erkennungszeichen einen burgunderfarbenen Schal und die markante Stadtteilmütter-Tasche. Der Erfolg dieses kleinen Projektes war so groß, dass wir uns entschlossen, die Stadtteilmütter zum Markenzeichen von Neukölln zu machen.
Seit 2007 haben wir inzwischen 309 Stadtteilmütter ausgebildet, und diese haben 5200 Familien mindestens zehnmal besucht. Unterstellen wir nur eine durchschnittliche Kinderzahl von drei in jeder Familie, haben wir den Lebensraum von rund 15 000 Kindern erreicht. Gönnen wir den Stadtteilmüttern keinen Erfolg und nehmen wir an, in 90 % aller Fälle waren ihre Bemühungen vergebens, dann waren sie immerhin bei 1500 Kindern erfolgreich. Nicht schlecht für ein Hartz- IV -Projekt, jedenfalls kein Vergleich zu Blätter in die Luft werfen und wieder zusammenfegen. Insgesamt sind einschließlich der Hartz- IV -Kosten 9,2 Millionen Euro in das Projekt geflossen. 600 000 Euro hat der Bezirk bezahlt, 1,2 Millionen Euro der Senat und 7,3 Millionen Euro das Jobcenter. Die Stadtteilmütter wurden bisher zehnmal national und international ausgezeichnet. Berlin erhielt für ihre Leistungen den Metropolitan Award. Gelobt werden sie viel, kopiert werden sie Gott sei Dank inzwischen auch häufig. Aber ihre Finanzierung ist alle zwei Jahre eine blamable Schacherei. Der Regierende Bürgermeister hat ihnen schon 2009 versprochen, dass sie in die Regelfinanzierung kommen. Den Spickzettel muss er wohl verloren haben. Im Jahr 2012 kämpften wir wieder mal um das Überleben des Projekts, weil die Finanzierung auszulaufen drohte. Letzte Meldung: Es ist wieder geschafft.
Die Stadtteilmütter haben ihr Zuhause im Rathaus Neukölln. Sie werden geführt und geleitet durch das Diakonische Werk. Bundesminister haben die Frauen besucht, Vizekanzler Müntefering hat mit ihnen diskutiert, Bundestagsfraktionen wollten sie hören und sehen. Überall wird ihnen hohe Anerkennung gezollt. Auch im Jobcenter, dort wird ihre Tätigkeit über den öffentlichen Beschäftigungssektor gefördert. Ich erinnere mich gut an eine Begebenheit beim Besuch von Franz Müntefering. Eine Stadtteilmutter erzählte ihm, dass sie das erste Mal das Gefühl hat, im Leben Verantwortung zu tragen und etwas Sinnvolles zu machen. Eine andere Frau berichtete, dass es in der Schule für die Kinder eine Ehre ist, sagen zu können: »Meine Mutter ist Stadtteilmutter.« So ganz nebenbei haben wir den Einwandererfrauen also zu einer neuen Identität verholfen. Und die eine oder die andere haben wir an den ersten Arbeitsmarkt verloren. Wir tragen das mit Fassung. Übrigens: Kinder von Stadtteilmüttern benehmen sich in der Schule völlig anders als ihre Straßenkumpels.
Das engagierteste, finanziell aufwändigste, aber inzwischen wohl auch berühmteste Projekt der Neuköllner Integrationspolitik ist der Campus Rütli – CR 2 .
Auslöser war 2006 der Brandbrief des damaligen Lehrerkollegiums mit der ultimativen Aufforderung, die Schule in der jetzigen Zusammensetzung zugunsten einer neuen Schulform zu schließen, weil die Lehrerschaft der dortigen Verhältnisse nicht Herr wird. Einen Abdruck des Briefes finden Sie im Anhang des Buches. Nachdem der Presserummel und die zum Teil wirklich widerliche Geilheit nach Skandalfotos abgeklungen waren, blieb trotzdem die Frage: »Und wie gehen wir mit der Situation weiter um?« Ein zu zwei Dritteln aus dem Ostteil der Stadt zwangsversetztes Lehrerkollegium, das jeden Tag einen Kulturschock erlebte, auf der einen Seite. Andererseits eine von dauergeduldeten, arabischen jungen Männern dominierte Schülerschaft, die nichts weiter im Kopf hat, als Stress raushängen zu lassen. Ich sprach damals mit Sozialarbeitern, die mit Projekten versuchten, die jungen Leute irgendwie zu motivieren. Sie berichteten, dass der Konzentrationshorizont der Jugendlichen etwa bei 20 Minuten liegt. Wenn dann keine Abwechslung erfolgt, drehen sie am Rad.
Bei meinen Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern stellte ich immer wieder fest, dass ihre Wünsche an das Leben sehr kleinbürgerlich normal waren. Friseurin, Schneiderin, Mechatroniker. Dass die Erfüllung genau dieser ihrer Wünsche in einem direkten Zusammenhang mit der Schule und dem
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