Neukölln ist überall (German Edition)
herzustellen, mit Ärger zu rechnen war und auch der Senat Dinge nicht liebt, an denen er sich die Hände schmutzig machen könnte, hat er seine offizielle Teilhaberschaft an dem Projekt abgelehnt. Er fördert uns lieber still und unerkannt. Positiv sei erwähnt, dass Klaus Wowereit nach einem der Überfälle auf das Büro dort einen demonstrativen Solidaritätsbesuch gemacht hat. Das hat den Mitarbeiterinnen gut getan.
Beim Schulschwänzer-Internat ist die Zielgruppe ein Kreis von Jugendlichen, die eigentlich noch nicht ganz verloren sind, gute Ansätze haben, aber immer wieder den Verhältnissen zu Hause oder im Kiez nicht widerstehen können. Ihnen geben wir Gelegenheit, Montag bis Freitag im Internat zu leben und zur Schule zu gehen. Von Freitagabend bis Sonntagabend können sie nach Hause, wenn sie wollen. Das Gelände ist nicht verschlossen, die Häuser auch nicht. Das Programm beruht nur auf Freiwilligkeit.
Als mir die Idee das erste Mal vorgestellt wurde, war ich völlig begeistert. Es hörte sich alles so gut und rund an. Nach inzwischen gut zwei Jahren Probebetrieb muss ich gestehen, dass uns der Durchbruch bisher nicht gelungen ist. Viele Jugendliche schaffen auch mit Unterstützung in dieser besonderen Form der Beschulung nicht den gewünschten Sprung zurück in einen regelmäßigen Schulbesuch. Wir haben uns jetzt noch ein Jahr Zeit gegeben bis zu einer Entscheidung Hopp oder Topp.
Muslimische Jugendliche trinken keinen Alkohol und nehmen keine Drogen, so heißt es. Ein Problembereich, um den wir uns also nicht zu kümmern brauchen, dachten wir. Inzwischen müssen wir feststellen, dass Allah auch nicht alles sieht und dass es immer eine Lösung gibt. Bei den Drogen heißt sie Tilidin. Ein starkes Schmerzmittel, das bei krebskranken Menschen im finalen Stadium eingesetzt wird. Es macht schmerzunempfindlich und euphorisch. Etwa 3000 Rezeptfälschungen fliegen jedes Jahr in Berlin auf. Die Dunkelziffer ist groß. Außerdem kommt Tilidin häufig aus Polen und den Niederlanden, wo ein 50-ml-Fläschchen rund 60 Euro kosten soll. Der Stoff wird häufig in Hinterzimmern von Shisha-Bars u. ä. verkauft. Auch an Jugendliche. Wenn Sie sechs bis zehn Polizeibeamte benötigen, um einen 14-Jährigen zu bändigen, dann ist Tilidin im Spiel. Und was den Alkohol betrifft, ist es mittlerweile schlicht so, dass immer mehr auch muslimische junge Männer mit dem Saufen anfangen. Die Folgen sind dieselben wie bei Angehörigen anderer Religionen. Eine Religion hat offensichtlich keinen Einfluss auf die Wirkung des Alkohols. Ist ja auch eine Erkenntnis.
Aufgrund der vorstehenden Erfahrungen haben wir Ende 2008 im Rathaus die » AG Jugendschutz« – im Jargon der Mitarbeiter: »Soko Suff« – gegründet. Rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bilden eine Einheit, die am Wochenende von 19.00 bis 2.00 Uhr wechselnd im Bezirk unterwegs ist, um den Alkohol- und Drogenmissbrauch zu bekämpfen. Sie alle engagieren sich ehrenamtlich. Bei ihrer Tätigkeit sind sie am Körper passiv geschützt und aktiv durch sie immer begleitende Polizeibeamte. Die »Soko Suff« hat bisher in rund 1900 Lokalen, Verkaufsstellen und Jugendtreffs 5900 Personen überprüft. Einige Jugendliche verdanken ihr das Leben. Wahrscheinlich können sie sich daran aber nicht mehr erinnern.
Die neue Armutswanderung aus dem südosteuropäischen Raum findet an dieser Stelle nur mit dem nachrichtlichen Hinweis Erwähnung, dass sie im letzten Kapitel behandelt wird.
Die Leuchttürme der Neuköllner Integrationspolitik sind das Albert-Schweitzer-Gymnasium, der Mitmachzirkus, die Stadtteilmütter und der Campus Rütli.
Das Albert-Schweitzer-Gymnasium, das Sie bereits kennengelernt haben, ist ein unumstößlicher Beweis dafür, dass wir doch in die Entwicklung der Stadtgebiete, aber vor allen Dingen in die Entwicklung der Persönlichkeiten der jungen Leute erfolgreich eingreifen können. Die Volksweisheit »Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen« ist gar nicht so weise. Da trifft doch eher der Refrain eines Kinderliedes, das ich vor kurzem bei einer Schulaufführung zu hören bekam: »Doof geboren ist keiner, doof wird man gemacht …«
Unsere Schulen müssen in die Lage versetzt werden, auf veränderte Bevölkerungsstrukturen auch mit veränderten Schulorganisationen und angepassten pädagogischen Konzepten antworten zu können. Das Modell der Albert-Schweitzer-Schule als Ganztagsgymnasium mit spezieller Sprachförderung kostet jährlich 220 000 Euro mehr
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