Neukölln ist überall (German Edition)
als die übliche Schulform. Das ist der Gegenwert von fünf Jugendknastplätzen. Die Gesellschaft kann sich also entscheiden, ob sie fünf Knackis ernähren oder 690 Gymnasiasten zum Abitur führen will. Diese Aussage ist so banal, dass man sie nicht für möglich hält. Und doch ist es so. Die Frage ist also, wieso gelingt es nicht, diese Erkenntnisse in das generelle Politikraster zu übernehmen? Es gibt mit Sicherheit noch andere gelungene Schulversuche und Beispiele für erfolgreiche Integrationsarbeit durch Engagement und Kreativität. Das Wissen ist im Land vorhanden. Es fehlt nur am Willen der Politschwätzer, es umzusetzen.
Der Mitmachzirkus entstand im Jahr 2007. Der Kern besteht aus einer richtigen Zirkusfamilie. Also nicht aus Sozialarbeitern mit roter Pappnase. Neuköllner Grundschüler können mit ihrer Klasse dort eine Woche lang Artisten werden. Sie jonglieren, sie laufen über Scherben, sie hängen am Trapez, sie führen Tierdressuren vor und machen gewagteste Akrobatik in Form eines Purzelbaums. Letzteres ist für manche Neuköllner Kinder eine echte Herausforderung. Der Sinn dieser Aktionswoche ist nicht, den Kindern das Diktat oder das Rechnen ersparen zu wollen. Wir zeigen ihnen eine andere Lebenswelt, die sie nicht kennen und die sie herausfordert. Wir wollen ihnen Solidarität vermitteln. Du kannst stehend auf dem Rücken des Pferdes reiten, wenn dich dein Klassenkamerad an der Longe festhält. Das macht er aber nur, wenn du ihn anschließend auch festhältst, und nicht, wenn du ihm eine reinhaust. Die Zirkusleute sprechen mit den Kindern in deren Sprache. Klar und unmissverständlich. Revierverhalten nach dem Motto »Was soll der Babykram hier? Ich bin ein harter Kämpfer« wird im Trainingszelt mit einer Viertelstunde auf der Matte geklärt. Das hält für eine Woche.
Nach fünf Tagen gibt es eine Abschlussvorstellung. Mit Glitzer, Schminke, Scheinwerfer und Musik. Die Eltern sollen kommen, um ihren Kindern zuzuschauen. Wie viele Mamas und Papas tatsächlich erscheinen, hängt von der sozialen Situation im Einzugsgebiet der Schule ab. Sind die Kinder aus dem Einfamilienhausgebiet, reichen die 400 Plätze nicht aus. Ist knallharter Kiez aus dem Norden angesagt, sitzen 20 bis 30 Eltern auf den Bänken. Den anderen ist es egal, was ihre Kinder machen. Kinder, die wichtige Einzelrollen in der Vorstellung haben, erscheinen plötzlich nicht. Irgendetwas in der Familie war wichtiger als die Aufgabe des Kindes. Heulende Kinder am Eingang des Zirkuszeltes stehen zu sehen, die bis kurz vor Beginn hoffen, dass ihre Eltern doch noch kommen und ihnen zuschauen, macht echt zornig. Nicht nur den Zirkusdirektor, sondern auch mich.
Die Erfolge dieser Maßnahme sind unglaublich. Außenseiter sind plötzlich in den Sozialverbund der Klasse integriert, Kinder, die im Unterricht nie den Mund aufmachen, treten als Ansager auf, und Hasenfüße schweben am Trapez unter der Zirkuskuppel. Jährlich 80 000 Euro kostet der Mitmachzirkus. Geschenkt für die 5000 Kinder pro Jahr oder die 25 000 Kinder seit wir ihn haben. Es kann so einfach sein, Kindern aus einer prekären Welt etwas Glanz in ihren Alltag zu bringen. Sogar Königin Beatrix nebst Kronprinz Willem und der bezaubernden Prinzessin Maxima bestanden darauf, ihn bei ihrem Staatsbesuch 2011 zu besuchen. Eine hohe Ehre für die Zirkusfamilie und für Neukölln.
2004 war die Geburtsstunde der Stadtteilmütter. Nach dem Campus Rütli wohl das zweitbekannteste Neuköllner Projekt. Wir wollten eine Art Kopie der Rucksack-Mütter aus Rotterdam ausprobieren. Das sind Migrantinnen, die als Botschafter des Vertrauens die eigene Ethnie aufsuchen. Der Unterschied zu Rotterdam war, dass die Frauen nicht mit Rucksäcken in die Kindergärten gehen sollten, um ihr Wissen zu verbreiten, sondern sie sollten mit der Stadtteilmutter-Tasche hinter die Wohnungstüren kommen. Hinter die Türen von Familien, bei denen der Bürgermeister mit der Amtskette zehnmal klingeln kann, und sie gehen trotzdem nicht auf. Das sind Familien, zu denen auch die Migrantenorganisationen keinen Kontakt haben.
Es begann mit einem kleinen Projekt im Quartiersmanagement Schillerpromenade. Damals stiegen 27 Einwandererfrauen ein, die weder einen Beruf erlernt hatten noch erwerbstätig waren. Die meisten lebten von Hartz IV . Sechs Monate lang haben sie damals gebüffelt und gelernt. Gesunde Ernährung, gewaltfreie Erziehung, was ist ein Kindergarten, warum gibt es Impfungen, wie funktioniert das
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