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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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nie nachgesehen.
    Einmal, nach Jahren, fuhr ich wieder an dem Haus, in dem wir damals gelebt hatten, vorbei. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt und die Vorderfront des Gebäudes war mit Graffiti besprüht, mit Monstern und Fratzen, und Totenköpfe starrten mich aus ihren Augenhöhlen an, während ich mich zu erinnern versuchte, ob die Fensterläden schon damals jenes verwitterte Grau gehabt hatten und ob es das zweite oder das dritte Fenster von links gewesen war, hinter dem wir darauf warteten, endlich erwachsen und Teil jener geheimnisvollen Welt da draußen zu werden.
    Der Brauch, im Advent einen Stern ans Fenster zu kleben, war mir geblieben. Und auch wenn ich mich dabei lächerlich fühlte, so nahm ich an jenem Samstag vor dem ersten Advent einen Bildband über Timbuktu aus dem Regal, der mir in erster Linie als Aufbewahrungsort eines Sterns aus gelbem Transparentpapier diente.
    Am nächsten und übernächsten Tag leuchtete |31| die späte Vormittagssonne in mein Fenster und ließ für eine Stunde oder zwei den Stern in seinem warmen Gelb erstrahlen, und mit einem Mal war mir, als stünde alles, was ich tat, unter einem guten Vorzeichen. So schrieb ich an diesen beiden Tagen nicht nur an der Fortsetzung der ›Umkehr des Herzens‹ weiter, sondern verfasste ein paar Haikus, die mir wirklich gelungen erschienen.
    Vertieft in meine Schreibe, dachte ich erst am sechsten Dezember wieder an das Grab, und als ich davorstand, verharrte mein Blick auf dem dritten Glas. Ohne mich umzusehen, griff ich danach, hob den Deckel und roch: Ein mir völlig unbekannter Duft entströmte dem Gefäß. Diesmal hatte ich jedoch vorgesorgt. Ich kramte eine winzige Plastiktüte aus meiner Manteltasche, tat – von den Skrupeln eines Grabräubers geplagt – eine Messerspitze von dem Gewürz in mein Tütchen und eilte davon. Nun hatte ich wieder einen Vorwand, die Frau, die mich an eine Mohnblüte erinnerte, aufzusuchen. Erst lief ich noch dreimal um den Block und suchte Mut. Was, wenn ich ihr gehörig auf die Nerven ging? Was, wenn sie mich für einen Geizhals hielt, da ich nie etwas bei ihr kaufte? Es war inzwischen fünf Minuten vor sechs, gleich würde sie schließen. Ich blieb noch einmal stehen, atmete tief |32| ein und wieder aus und steuerte die Apotheke an. Als habe sie bereits auf mich gewartet, nahm die Mohnblüte das Tütchen entgegen, roch kurz an seinem Inhalt, sagte »Ingwer« und lächelte so lind wie ein Frühlingsabend in der Toskana. Ich war erleichtert. Und während ich noch damit beschäftigt war, erleichtert zu sein, fuhr sie bereits fort: »Das beste Aroma sagt man dem Jamaika-Ingwer nach. Dann gibt es noch Malabar-Ingwer, der schmeckt zitronig. Ingwer aus Westafrika ist ziemlich scharf.«
    »Sie kennen sich aber gut aus!«
    Die Mohnblume errötete, ich tat es ihr gleich und sie sagte: »Es   … Es gibt auch Stern-Ingwer. Den kriegt man auch kandiert als Scheiben oder Stäbchen, mit Schokolade überzogen oder glaciert. Dort im Regal   …«, sie deutete auf ein paar Päckchen schräg hinter mir, »habe ich welchen mit Bitterschokolade.«
    Ich drehte mich um, näherte mich dem Regal, stand unbeholfen davor, räusperte mich, murmelte etwas wie »eine Tüte mitnehmen« und wagte zu fragen: »Und wofür ist der gut, der Ingwer?«
    »Tja   …« Ich fürchtete, sie in Verlegenheit gebracht zu haben, denn ihre Wangen nahmen nun eine tiefrote Färbung an. Doch dann sagte sie mit fester Stimme: »In Asien und Afrika wird Ingwer gegen Magen-, Kopf- und Zahnschmerzen verwendet, |33| gegen Erkältungen und sogar bei Rheuma. Ingwer ist wärmend und antiseptisch.«
    »Ich habe noch nie Ingwer verwendet. Ich wüsste gar nicht, wofür man den nimmt.«
    »Oh   … Er ist sehr vielseitig   … Man kann ihn für Suppen und Gemüse verwenden, Hackfleisch, Schinken, aber auch für Süßspeisen.«
    »Gingerale!«, rief plötzlich eine Stimme von hinter dem Regal.
    »Ja,
das
k… kenne ich« sagte ich, an die Mohnblüte gewandt.
    »In England ist er verbreiteter als bei uns. Denken Sie nur an
Gingerbread

    Wieder räusperte ich mich, sie räusperte sich, wir waren Weltmeister im Räuspern. Darauf schwiegen wir.
    »Tja   …«, setzte ich nach einer Weile an.
    »Tja   …«, antwortete die Mohnblüte.
    »Also, vielen Dank. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«
    »Der Schokoingwer, wollten Sie nicht eine Tüte davon?«, gellte es wieder von hinter dem Regal.
    Nun war die Reihe an mir zu erröten.
    »Aber ja   …

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